Die bewährte „Bregenzer Dramaturgie“, neben Populärem auf der Seebühne im Festspielhaus bislang verkümmerte Opernpflänzchen zum Blühen zu bringen, führte diesmal zu einer Neufassung. Denn das Werk hat es bislang schwer auf der Bühne. Die 1903 uraufgeführte „Siberia“ war Giordanos dritte Oper. Seine Komposition findet zwar über flüssig verarbeitete russische Folklore und orthodoxe Chor-Klänge zu Partien dramatischer Italianitá und zwei schwelgerischen Duetten der Liebenden. Aber das Libretto Luigi Illicas besitzt Schwächen.
Die Akt-Überschriften „Hetäre“-„Liebende“-„Heldin“ lassen sich auf dem Papier zu einem „Läuterungsdrama“ mit Maria-Magdalena-Zügen deuten. Die Bregenzer Dramaturgie hat den vielfach in Deutschland arbeitenden russischen Regisseur Vasily Barkatov zusammen mit den Filmemachern Pavel Kapinos und Sergey Ivanov eine Rahmenhandlung an russischen Schauplätzen aufnehmen lassen, den Christian Borchers zu stücktragenden Video-Sequenzen formte.
Vor aller Musik bricht im Film eine alte Dame auf, um die traurige Familiengeschichte zu einem guten Ende zu führen: Stephana, schon im 2.Akt schwanger auftretend, hat nämlich in der sibirischen Lager-Einöde zwei Kinder Vassilis zur Welt gebracht; die jetzt alt-ergraute Tochter bringt die Urne des Bruders zurück an den Ort des einstigen Lagers, wo Stephana und Vassili ihre letzte Ruhe gefunden haben – heute ein Kinderspielplatz.
Die sehr gut gefilmten Stummfilm-Aufnahmen in Schwarz-Weiß bekommen in diesen Kriegswochen fast beklemmende Dokumentar-Qualität. Sie verbinden und runden den etwas abgehackten Stationen-Charakter der musikalischen Akte – auch durch das unaufgesetzt expressive Spiel von Clarry Bartha, ihrer Fixierung auf die Urne, ihrem hilflosen Insistieren bei der Suche in kafkaesken Lager-Archiven, ihren Visionen der Toten in der eisigen Weite Sibiriens. Auch wenn die auf einer bühnenbreiten Cinemascope-Leinwand projizierten Filmsequenzen am Ende nicht perfekt anschließen – das Finale, wenn sich die alte Tochter im jetzt auf der Bühne farbig belebten Kinderspielplatz wie in einer Vision in die Arme der noch jungen, aber toten Mutter kuschelt, rührt an.
Das tun Christian Schmidts Bühnenbilder mehrfach. Mit raffiniert präziser Projektionstechnik verwandelt er kahle Wandpartien in angrenzend unterschiedliche Räume. Die in halber Bühnentiefe gesetzte Rückwand fährt auf zu sibirischer Weite, fährt zu Archiv-Klaustrophobie, fährt auf zur Behördenhalle mit Kachelwand im Sozialistischen-Realismus-Arbeiter-Pathos – alles stücktragend bis zum Finale.
Dazu lieferte Dirigent Valentin Uryupin nicht nur Film-Sound“. Über die mit Mandoline und Zither original besetzte Bühnenmusik baute er mit den Wiener Symphonikern die dramatischen Attacken des Zuhälters Gleby (Scott Hendricks mit Scarpia-Bariton) klug auf und ließ Vassilis Liebe blühen, dann schwanken und endgültig erglühen (Alexander Mikhailov mit guter Bühnenerscheinung und jugendlich leuchtendem Tenor). Das gute übrige Ensemble überstrahlte die Kanadierin Ambur Braid: ihren Frankfurter Triumphen fügte sie nun mit der Stephana ihrem Repertoire eine weitere Heldin des „lirico spinto“-Fachs hinzu – Tändelei, Verführung, Hingabe kann sie mit ihrem üppigen Sopran, bis hin zur „gran espansione“, dem glutvollen Ausbruch bis an die Grenze – eben eine der großen Liebenden in der Oper, auch wenn im Premierenfuror ihre Fortissimo mehrfach alles dominierte. Trotz des bitteren Endes einhelliger Jubel für eine dieser wohl weiter im Nebenbeet blühenden Opern-Orchideen.