Der künstlerische Zugriff auf virulente Problemfelder der Gegenwart gehört, nach der eher „entzeitlichten“ Kunstauffassung der Ära Nike Wagner, seit Christian Holtzhauer zum Markenkern des Kunstfestes Weimar. Gegenwärtig heißen die Baustellen bekanntlich Klimawandel, Krieg, (Post)Pandemie und Demokratieverachtung, eine selten brisante Mischung, die der diesjährigen Festivalausgabe unter dem Motto „Sehnsucht nach Morgen“ ihren Stempel aufdrückte. Der Hoffnung auf das utopische Potential der Künste wurde also noch nicht entsagt. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger hat der jetzige Intendant Rolf C. Hemke dabei auch wieder verstärkt die Musik im Blick und bezieht bei allem internationalen Anspruch verstärkt auch die progressive Musikszene Thüringens mit ein. Das ist gut so!
Der Klimawandel ist auch das zentrale Thema des Musiktheater-Projektes von Jörn Arnecke (Professor an der Weimarer Musikhochschule) und Falk Richter unter dem Titel „Welcome to Paradise Lost“, einer Koproduktion mit dem Deutschen Nationaltheater (als Schauspiel bereits 2021 in Kassel uraufgeführt). In der Regie der derzeitigen Weimarer Operndirektorin Andrea Moses stellte es die berechtigte Frage, warum wir alle, die wir uns längst der Zerstörung unserer eigenen Lebensgrundlagen bewusst sind, eigentlich nichts ändern. Wohl wissend, dass man schwerlich etwas verlieren kann, was es nie wirklich gegeben hat, geschah dies aber nicht mit dem moralischen Zeigefinger, sondern als vielschichtiges, oft auch selbstreferentiell-ironisches Musiktheater, das die Grenzen zwischen Darstellern und Publikum in einer mobilen Szenerie bewusst aufhob. Den Folgen der Erderwärmung kann schließlich niemand entrinnen, auch in der heimischen Komfortzone nicht und so fand sich das Weimarer E-Werk zunächst in ein opulentes Wohnzimmer verwandelt, in denen die Akteure mitten im gechillten Publikum munter agierten und agitierten. Akteure hieß hier vor allem: ein herzerfrischend dynamisch auftrumpfendes Chorkollektiv von Jugendlichen, die in einer Doppelfunktion unterwegs waren – als Aktivisten im Stile der Fridays for Future-Bewegung und zugleich als umtriebiger Vogelschwarm.
Letzterer hatte sein Zuhause in der Quelle von Richters Libretto: Farid ud-Din Attars „Die Konferenz der Vögel“, eine persische Sufi-Dichtung aus dem 12. Jahrhundert. Richter transformierte die Parabel über die Eigenverantwortlichkeit jeden Tuns ins krisengeschwängerte Jetzt, eine Welt am Rande des Zusammenbruchs dank einer nach wie vor ungebremsten Wachstumsideologie. Als kugelige Video-Projektionsfläche für kommentierende Versatzstücke aus dem Zeitgeschehen und dezent inszenierte Ironisierungen drehte sich diese untergehende Welt ständig sichtbar unter der Ecke des Saales.
Richters politisierende Überschreibung der mittelalterlichen Fabel kam sprachlich weitestgehend im Plakat-Modus daher und ohne die medial gründlich breit getretenen Slogans und Allgemeinplätze auch nicht aus, wurde aber immer wieder durch überraschende Perspektivwechsel der Regie aufgebrochen. Hierin lag das große Verdienst von Andrea Moses, welche bei allem (notwendigen) gesellschaftskritischen Engagement und Bekenntnischarakter die Widersprüche, Defizite und Oberflächen aller beteiligten Gesellschaftsgruppen zu desavouieren verstand. Diese Aufgabe lag vor allem in Händen des fabelhaften Jonas Fürstenau, der als launiger, unberechenbarer Conférencier das wuselige Geschehen moderierte, dabei auf ständig wechselnde Meta-Ebenen brachte und für das nötige Quantum Humor in dieser ernsten Angelegenheit sorgte. Als auf der Suche nach dem Erlöser (Gott „Simurgh“ in der literarischen Vorlage) zum Tribunal ins Foyer gepilgert wurde, wurde dann auch das Publikum mal direkt befragt, wer denn nun das Ruder in die Hand nehmen könnte, um für den Fortbestand dieses Planeten zu sorgen. Und draußen vor der Türe war man dann mittendrin im fröhlichen Aktivistencamp, Brandsätze inklusive.
Schwachpunkt in diesem dichten Zusammenspiel der szenischen, visuellen, sprachlichen und kompositorischen Kräfte war aber eindeutig die Musik. Musik könne uns packen, irritieren, Widerstände bieten, Erinnerungen wachrufen, Impulse geben zum Handeln, ließ Jörn Arnecke im Vorfeld verlauten. All dies tat Arneckes Kammerorchesterpartitur nicht. Grundsätzlich dockte sie in Melos und Rhythmik (unter Verwendung persischer Modi) an die Atmosphäre der archaischen Vorlage an und bestand, neben sphärischen Evokationen per Glasharmonika zu gefühlt 80 Prozent aus der Stilisierung und Transformation von Vogelstimmen. Das war inhaltlich naheliegend, aber auf Dauer doch reichlich ermüdend. Auch die partielle Einbeziehung verzerrter Objets trouvés („Im Märzen der Bauern“) wirkte in den wenigen Momenten dann eher übers Knie gebrochen. Angesichts der abgründigen Thematik hätte man sich insgesamt eine widerspenstigere, unwirtlichere, ja widersprüchlichere Musik gewünscht, eine Musik, die aufrüttelt, stört und verstört.
Eine wesentlich kompaktere Verbindung von Musik und Szene versteckte sich hingegen in einer äußerst fruchtbaren Kooperation der Berliner Maulwerker mit dem Thüringer Ensemble Via Nova unter dem Motto „Countdown ins Nichts“. Dieter Schnebel hätte seine helle Freude gehabt: Soviel „Sichtbare Musik“ gab es lange nicht in Weimar. Kompositionen von Johannes K. Hildebrandt, Steffi Weismann, Moritz Eggert, Christian Kesten und Margareta Ferek-Petric verbanden in minimalistischen Versuchsanordnungen oder umtriebigen Collagen Geräusch und Ton, Instrumentalklang und Stimme, Text und Pantomime, Musik und Szene – Instrumentales Theater in konzentrierter Form und freilich unterschiedlicher Überzeugungskraft. Zwei Uraufführungen spanischer Komponist*innen beanspruchten dabei besondere Aufmerksamkeit: Raquel Garcia-Tomás’ „SIGHTINGS“ war eine vielfarbig expressive Film-Musik zum gleichnamigen Video von Pere Ginard, das sich in mal geheimnisvoller, mal dramatisch-abgründiger Weise den diversen Bedeutungsebenen des Meeres widmete. Garcia-Tomás hatte dazu die Bildsprache oft, aber überzeugend eins zu eins in Klang transformiert. Höhepunkt des äußerst konzentriert und prägnant gestalteten Abends aber war Óscar Escuderos und Belenish Moreno-Gils „Autotune para el pueblo“, das den Musikbetrieb als trashige Systemkritik zur Selbstausbeutung mit viel Video und Elektronik auf’s Korn nahm.
Ein weiteres interessantes Kunstfest-Konzert verdankte sich dem Ensemble Klangwerk am Bauhaus, kurariert von den in Weimar lehrenden Komponisten Ulrich Kreppein und Marcus Aydintan. Sie nahmen in einer Mischung aus instrumentalen und akusmatischen Kompositionen einig Ausprägungen musikalischer Transformation ins Visier. Dabei gab es die eine oder andere Entdeckung zu machen: zum Beispiel Francis Dhomonts „Un autre Printemps“ (2000), das in erfrischender Weise Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ akusmatisch dekonstruierte, während Robin Minards „Resonanz“ für Klavier, Schlagzeug und Stereo-Zuspiel (1993) ein spektrales und sehr gelungenes Beispiel für die Interaktion von Elektronik und Instrumentalklang war. Besonders erwähnenswert war an diesem Abend jedoch die von Cellistin Cristina Meißner initiierte Uraufführung von Chaya Czernowins „Adiantum Capillis-veneris III“, eigentlich ein Vokalwerk, das die Weimarer Cellistin in enger Zusammenarbeit mit der Komponistin sehr sublim für ihr Instrument eingerichtet hatte. Im Dialog mit zwei weiteren Cello-Stimmen vom Band entstand eine Interaktion feiner Geräusch-Nuancen und Motiv-Partikel, die Schatten und Impuls zugleich verkörperten und die Aufmerksamkeit des Hörens schärften.