Hauptrubrik
Banner Full-Size

Verstörend, ungezähmt, sprunghaft

Untertitel
Das Festival „weit! neue musik weingarten“ rückte den Komponisten Rolf Riehm ins Zentrum
Vorspann / Teaser

John Cage, Mauricio Kagel, Rebecca Saunders, Isabel Mundry – sie alle waren hier, bei den Weingartener Tagen für Neue Musik (1986–2015). Das 2021 gegründete Nachfolgefestival „weit! neue musik weingarten“ ging im November 2023 nun auch schon ins dritte Jahr. Nach Toshio Hosokawa (2021) und Sarah Nemtsov (2022) stand diesmal Rolf Riehm im Mittelpunkt. 

Publikationsdatum
Paragraphs
Text

Aus der Grundidee, im jährlichen Wechsel jeweils eine Komponistin oder einen Komponisten zu einer dreitägigen Wochenendklausur in die oberschwäbische Provinz einzuladen, resultiert seit jeher der spezielle Charme dieses Treffens. Im Fall Riehm nun entstand ein ambitioniertes Porträt mit fünf Konzerten, mit Vorträgen, Lectures und Rahmenprogramm. Gleich vorweg: Das neu aufgelegte Festival setzt eigenwillige Akzente – mit tragfähiger Konzeption und renommierten Gästen. 

Eine Frage zog sich unter anderem durch: Inwieweit kann Rolf Riehm, zeitweise Mitglied im „Sogenannten Linksradikalen Blasorchester“ und langjähriger Professor in Frankfurt am Main, als „politischer Komponist“ bezeichnet werden? In der Begegnung mit Schlüsselwerken wie etwa „Orpheus Euphrat Panzer – Threnodie zur Kithara“ (2016), noch dazu in der maßstabsetzenden Interpretation von Sarah Maria Sun (Sopran) und Jan Philip Schulze (Klavier), aber auch in den erläuternden Programmteilen zeigte das Festival, wie Riehm die Möglichkeiten politischer Musik neu definiert hat – in ebenso vielschichtiger wie unorthodoxer Ausprägung.

Neben dem Ensemble Mosaik, Magdalena Cerezo Falces (Klavier) und Caroline Rohde (Alt-Blockflöte) hatte Rolf W. Stoll, der künstlerische Leiter des neu aufgelegten Weingartener Festivals, auch das Trio Accanto verpflichtet. Wie bei Riehm Komplexität und Unmittelbarkeit des Ausdrucks ineinandergreifen, verdeutlich­te das Trio etwa in „Basar Aleppo oder Die Straße nach Tyros“ (2015) für Tenor-Saxophon, Klavier, Marimba und CD-Player. Aus dem Off sind tagesaktuelle Nachrichten vom August 2013 über den Krieg in Syrien zu hören („Im Moment sind die Helfer dabei, die Leichen zu identifizieren“), aber auch poetische Passagen des Gilgamesch-Epos aus dem 2. Jahrtausend vor Christus („Um euretwillen mögen weinen die hohen Gipfel von Berg und Gebirge“). Mit atemberaubender Intensität machte das Trio Accanto das Zerklüftete dieser für Riehm typischen Collage erfahrbar, das unvermittelte Nebeneinander von emotionslosen News-O-Tönen und kreischenden Noise-Phasen, von mikrotonal abwärts gleitenden Klagelinien des Saxophons und verstörend hämmernden Rhythmen. Die eindrückliche Interpretation dieser „Klangszenen“ gab auch einen Begriff davon, dass bei Riehm das Politische nicht im rein Appellativen, nicht im korrekten Statement und genausowenig in der Ästhetisierung des Schreckens liegt, sondern im bekennend Sprunghaften, Ungezähmten, Unversöhnlichen seiner Musik, in der gestische Reflektionen über Mythos, Geschichte und Gegenwart aufeinanderprallen.

Was das Festival „weit!“ vom Kessel-Buntes-Prinzip anderer Treffen unterscheidet, ist die Fokussierung auf die Musiksprache einer bestimmten Persönlichkeit, diesmal auf Rolf Riehms Werk von etwa Mitte der 1970er Jahre bis 2020. Doch gleichzeitig wurden Riehms Kompositionen in einen Kontext eingebettet, der zeitgenössische Positionen von György Ligeti bis Misato Mochizuki umfasste, aber auch weitere Kreise von Monteverdis „Lamento d’Arianna“ (mit Hammondorgel!) bis hin zu „I put a spell on you“ von Screa­min’ Jay Hawkins zog. 

Ungewöhnliche Hörvergleiche ermöglichten auch die Stuttgarter Philharmoniker unter Manuel Nawri im Abschlusskonzert, bei dem als Referenzpunkt zu Riehm etwa Jean Sibelius’ „Der Barde“ (1913) erklang, düster, stimmungsvoll und klangfarbenreich. Dagegen Riehm: In „Nuages immortels oder Focusing on Solos (Medea in Avignon)“ (2001) treffen drei heterogene Elemente aufeinander – Fragmente des antiken Seikilos-Lieds, kleine Konzerte innerhalb des Orchesters und Erinnerungen an Isabelle Huppert, die Medea als Rolle ihres Lebens mit dunkler Kraft und Magie verkörperte. Dieses „Gestrüpp an Konstellationen“ (Riehm), widersprüchlich und doch unterirdisch verbunden, machten Nawris Philharmoniker präzise, expressiv und zuweilen gespenstisch erlebbar. Gewaltige Klanglandschaften wiederum entfesselte Nawri in Riehms „Tränen des Gletschers“ (1998) – mit brausendem Blech, leisen Lamenti der Klarinette und intermittierenden Geräuschwänden. 

Dass der 86-jährige Riehm aus gesundheitlichen Gründen seine Teilnahme dann doch absagen musste, tat dem dicht und bezugsreich konzipierten Programm kaum Abbruch. Auch die Lecture des Komponisten über seine Zeit in der Frankfurter Spontiszene konnte stattfinden, nunmehr vorgetragen vom künstlerischen Leiter. Kurzum, „weit!“, das wieder auferstandene Weingartener Treffen, hat sich mit markantem Profil nachhaltig in der Festivallandschaft zurückgemeldet. Die nächsten Komponist(innen)porträts sind bereits in Planung: 2024 soll Hilda Paredes nach Weingarten kommen, 2026 Chaya Czernowin.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!