Der 3. März 1875 wurde zu einem besonderen Tag. Das Pariser Journal Officiel verkündete, dass der ja längst anerkannte Komponist Georges Bizet zum Chevalier der Ehrenlegion ernannt worden sei. Das schien ein gutes Omen zu sein für den Abend. Denn da stand die Premiere von Bizets neuer Oper in der Opéra Comique an … doch der Abend endete eher frostig: „Carmen“ war ein Misserfolg; für Folgeaufführungen wurden Karten verschenkt. Mit diesem Eindruck starb der noch nicht einmal 37-jährige Bizet im Juni 1875.
Viel Opéra Comique nahe gerückt – Bizets „Carmen“ an Münchens Staatstheater am Gärtnerplatz
Zu „wagnerianisch“ urteilte ein Gutteil der Pariser Kritik über die ohnehin schon anstößig skandalöse Frau. Doch mit der Wiener Aufführungsserie im Oktober 1875, die Brahms und Wagner tief beeindruckt erlebten, begann der von Peter Tschaikowsky vorausgesagte Triumphzug des Werkes durch die gesamte Opernwelt – bis hinauf auf die Filmleinwand.
In den letzten Jahrzehnten ist die Fassungsfrage in den Vordergrund gerückt. Nach der langen Phase als „Verismo-Oper“ mit den nachkomponierten Choudens-Rezitativen bemühen sich jetzt Häuser mit einem festen Ensemble um die originale Dialog-Fassung in französischer Sprache. Das Staatstheater am Gärtnerplatz geht soeben noch einen Schritt weiter; aus Fedora Wesselers französischer Fassung des Werkes nahmen Theaterautorin Susanne Felicitas Wolf und Regisseur Herbert Föttinger den musikdramatischen Höhepunkt des 2. Akts als Angelpunkt: über Carmens dominant erotische Freiheitsbeschreibung hinaus die fulminante Steigerung der ganzen Szene zur „chose enivrante – la liberté!“ – darin gipfelt die lange Schmuggler-Tradition an Spaniens Küsten, dann die lange und blutige Selbstbehauptung der Basken, als eine Folge die Zerstörung des traditionellen wie politischen Zentrums Guernica durch die Franco-Diktatur und der bis in unsere Tage reichende Kampf von „Euskadi Ta Askatasuna – Freiheit für das Baskenland“.
Szenisch konkret formte das Bühnenteam: José hat beim Pelota-Spiel einen Gegner erschlagen und sich ins Militär geflüchtet; sowohl die gemeinen Soldaten wie die Zigarettenarbeiterinnen gehören der eher armen Unterschicht an; „Schwarzarbeitsgeld“ speziell aus Schmuggel ist wesentlich und von Männern in guten Anzügen organisiert; Bestechung und Korruption blühen – und in dieser wabernden Gegenwelt haben auch die „Zigeuner“ einen Platz gefunden … hier prallen Carmens kämpferische Selbstbestimmung bis in ungebundene Liebe und Sexualität hinein und Josés dörflich-traditionelle Bindungsvorstellungen aufeinander – ein tödlich endender Konflikt.
Das hat Föttingers Regie zwei Akte lang in der kalt-geordneten Bogen-Architektur von Walter Vogelweiders Bühne – Chiricos Bildwelt grüßt – in beeindruckend differenzierter Personenführung sehr überzeugend geformt: den brutalen Glatzkopf-Leutnant Zuniga (Lukas Lemcke); die frech-selbstbewussten Arbeiterinnen; Carmens Habañera, bei der sie sich routiniert aufreizend den roten Slip auszieht und zunächst Zuniga zuwirft, ehe er als wirbelnde Trophäe durch Soldatenhände wandert – und im Kontrast dazu öffnet die nicht blond-mädchenhafte, sondern schwarzhaarig weiblich selbstbewusste Micaëla eben nur das oberste Knöpfchen ihres Kleides im Duett mit José, beobachtet aus einem Torbogen heraus seine Verführung und registriert Carmens Blume; gelungen auch, wie Carmen mit einer ihrer Haarnadeln die Handschellen öffnet. In der billig rot ausgeleuchteten Schenke des 2. Akts steigern vier originale Flamenco-Tänzerinnen das „Chanson bohème“ zusammen mit vier Chor-Mittänzerinnen; hier wird Escamillo eher noch als Star der kleinen Provinz-Arenen gefeiert. Josés Verfallenheit ist nachvollziehbar und das gipfelt eben im fulminanten Ensemble für „Liberté!“
Dass der 3. Akt nicht in den Bergen, sondern in einer düster ausgeleuchteten Bogen – jetzt Werkshalle mit verdreckten Fenstern im Hintergrund spielt – naja; folglich ist zuvor die impressionistisch atmende Entracte-Musik mit dem Flötensolo eher nur als Utopie von Freiheit zu verstehen. Dass Michael Heidingers Licht dann aber beim zentralen Karten-Terzett und Carmens Vision nicht „mitspielt“ – nochmals naja. Dafür entdeckt Micaëla hier schon Josés Messer, das dann später … Die zu einem intimeren Raum zusammengefahrene Bogenarchitektur des Schlussakts zeigt dann zwar Escamillo beim traditionellen Gebet vor dem Kampf, lässt aber seine rituelle Einkleidung weg – eine verpasste Chance für den sonst doch gerne „prunkenden“ Kostümzauberer Alfred Mayerhofer, der insgesamt in den Kostümen nicht „Blut, Dreck und Galle“ aus Mérimées Novelle zeigt, eher den „Ordnungsstaat“ Francos und auch am Ende Carmen noch nicht als Escamillos Prunkgeliebte ausstaffiert. Die Bogengänge ermöglichen dann Josés finale Annäherung und auch Micaëla erlebt das tödliche Ende mit …
All diese überlegt eingefügten Details ließen die Inszenierung zu einer dichten, insgesamt überzeugend nahe gerückten Deutung werden – einhellige Begeisterung. Der Jubel galt über den vokal volltönenden wie vielfältig mitspielenden Chor (Einstudierung Pietro Numico) auch allen Solisten: sie präsentierten die neuen Dialoge in sehr gutem Französisch, sangen immer wieder das komponierte Piano und vieles im leichten Tonfall der opéra comique. Da hatte Chefdirigent Rubén Dubrovsky stilgerecht einstudiert und ermöglichte auch die fließenden Übergänge von Dialogen in die Gesangslinien, dazu schlanker Gesamtklang und flotte Tempi – eine Aufführung fern jahrelangem Verismo-Klangbombast. Dass er den Kinderchor gestrichen hatte und Josés Auftritt nicht aus der Ferne hereinklang – naja. Dafür war Timos Sirlantzis ein markanter Escamillo fern Verdischer Bariton-Schwelgerei. Lucian Krasnecs José zeigte nur gegen Ende ein paar kleine Vokalgrenzen, war ansonsten ein überzeugend zerrissener Halbheld. Mehr als Carmens Blume in ihrer Hand ersang sich Ana Maria Labin, die Micaëlas Weiblichkeit anmutig, schön und fern allem „Hascherl“, sondern in beseeltem Flehen zu anrührendem Klang werden ließ. Der Jubel für sie steigerte sich nur noch ein wenig für Sophie Rennert, die äußerlich wie vokal eine überzeugende opéra comique-Carmen war: beweglich, kess, selbstbewusst und vielerlei Farben in ihren Tönen für die Mannsbilder rundum… Machowelten, an denen bis heute dieses Kunstmonument weiblicher Unabhängigkeit scheitert.
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