„Bravo Beethoven“ tönt es aus dem Publikum, als Maximilian Marcoll den Beifall für die Uraufführung seiner „Amproprification #8: EROICA“ entgegennimmt. Wer stärkeren Anteil an diesem Werk hat, ob der 36jährige Komponist aus Lübeck oder der gut 200 Jahre ältere „Wiener Klassiker“, das ist hier durchaus die Frage.
Hinter der Bühne des Werner-Otto-Saals im Berliner Konzerhaus spielt das Ensemble UnitedBerlin unter der Leitung seines „Artistic Advisor“ Vladimir Jurowski den ersten Satz der „Eroica“, in voller Länge und mit allen Wiederholungen, in einer Nonettfassung eines „Mecklenburgischen Kammercompositeurs“ Carl Friedrich Ebers, die allein schon durch die Besetzung gewisse erhellende oder auch erheiternde Akzente setzt. Da plumpst das Horn in die Reprise hinein, sägt penetrant der Kontrabass und flattert die Flöte. Das dringt aus etwa acht im Halbrund gestellten Lautsprechern auf die leere Bühne und in den Konzertsaal, verzerrt, verdeckt, in einzelnen Phrasen hervorgehoben oder in den Hintergrund gedrängt, in rhythmischen Verschiebungen Echo- und Halleffekte erzeugend. Es erinnert daran, wie man als Kind per schwankender und blubbernder Ultrakurzwelle aus dem Radio die Klassiker „fraß“, oder an ein Palimpsest, das abgeschabt immer neue Schichten freigibt. Marcoll erreicht dies durch Lautstärkemanipulation – der Werktitel kombiniert die Begriffe „Appropriation“ (Aneignung) und „Amplification“ (Verstärkung). Den Komponisten interessiert, dass Beethoven sich offenbar gegen sein Verfahren „wehrt“, dadurch die Bedeutungsebene rebellischen Freiheitsdrangs besonders zum Ausdruck komme – tatsächlich wirkt die „Eroica“ unverwüstlich und fremd zugleich, als hätten außerirdische Besucher sie nach längst vergangenem Atomkrieg unter Schutt und Staub aufgefunden.
„Musikalische Opfer“ nennt Vladimir Jurowski sein viertes Projekt dieser Saison mit dem Ensemble UnitedBerlin, das der renommierte Dirigent trotz wachsender Verpflichtungen immer noch künstlerisch betreut und leitet. „Roter Oktober“, „Claude Vivier“ und „Bernd Alois Zimmermann“ waren ihm vorausgegangen – allesamt hochspannende, auch über rein Musikalisches hinaus anregende, engagiert gespielte Programme. Die Thematik, anknüpfend an Bachs „Musikalisches Opfer“ an Friedrich II. von Preußen, meint Huldigungen und Hommagen zeitgenössischer Komponisten, die ihre musikalischen Bezugspunkte vielfältigen Umwandlungsprozessen unterwerfen. Niemand sonst geht so direkt und radikal vor wie Marcoll – wobei fraglich bleibt, ob das oder dem Objekt seiner kompositorischen Begierde hier geopfert wird. Christfried Schmidt bezieht sich in seiner „Kammermusik XI“ für 18 Instrumentalisten auf den „Heiligen Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit“ – der auch selbst als „musikalisches Opfer“ gelten kann – aus Beethovens a-Moll-Streichquartett op. 132. Fast unhörbar erheben sich im Mittelsatz des orchestral ausladenden Stücks choralartige Fragmente zwischen sich in klagenden Glissandi windenden, diesen tonalen Moment verunklarenden Violinlinien und tröpfelndem Schlagwerk – ein wenig erinnert das in seiner Bündelung heterogener Schichten an den Choraleintritt in Alban Bergs Violinkonzert oder an Charles Ives. Ansonsten schreibt Schmidt eine wilde, in immer neuen Klangwogen anrollende und sich eruptiv entladende Musik, farbig instrumentiert, ereignisreich, komplex und konfliktscharf. Unfassbar, dass sie, zur Musikbiennale 1995 entstanden, erst jetzt ihre Uraufführung erlebte, „sie wollten nicht“, meint der 86jährige Komponist in einem kurzen Gespräch mit dem 1. Geiger Andreas Bräutigam, stets ein Unangepasster, mit dem weder der reglementierende Osten noch das business des Westens so recht etwas anzufangen wusste.
Flankiert werden die beiden Uraufführungen zum einen von „... a musical offering (J.S.Bach 1985)...“ des ebenfalls 1932 geborenen Alexander Goehr, eine frische, originelle Bach-Hommage, die ihr Material aus der Gregorianik nimmt, aber den Bachschen Duktus etwa seiner Suitensätze aufgreift und in die eigene dodekaphonisch gespannte Klangsprache überführt, nicht ohne ironisches Augenzwinkern und in klar charakterisierenden Instrumentenkombinationen. „Ad Bestias“ von Arne Gieshoff dagegen bezieht sich auf das reale Lebensopfer – im alten Rom wurden die Verurteilten den „Bestien“ vorgeworfen – mit durchaus lautmalerischen Qualitäten, doch trotz wimmernder hoher Cellotöne, schnatternder Oboen und schrill aufschreiender Klarinetten zur ständig dräuenden Pauke bleibt der Eindruck vergleichsweise blass. Wie es geht, macht Anton Webern vor: Seine Instrumentation des sechsstimmigen Ricercars aus Bachs „Musikalischem Opfer“ formiert das Original zur eigenen Klangfarbenmelodie, zieht ihm neue Bögen und Strukturen ein, akzentuiert und schattiert – betreibt damit eine Aktivierung des Hörens, wie sie wohl auch Marcoll vorgeschwebt haben mag.