Der bekannte Satz „Der Weg ist das Ziel“ mag zum Klischee geronnen sein, aber er kommt einem zunächst in dem Sinn, wenn ein musikalisches Vorhaben mit derart vielen Komponenten und Unwägbarkeiten durchsetzt ist wie das „Talyish-Pontos-Projekt“. Der 1976 geborene Komponist Stefan Pohlit konzipierte und realisierte es recht kurzfristig binnen eines Jahres mit Unterstützung der Akademie der Künste Berlin, der Akademie der Wissenschaften Mainz, des Programms „Neustart Kultur“, des Goethe-Instituts und zahlreicher Einzelpersonen bis hin in die eigene Familie.
Mit der Präsentation unter dem Titel „Der Schwarze Schäfer. Eine musikalische Spurensuche vom Kaspischen ans Schwarze Meer“ in der Staatsphilharmonie in Ludwigshafen war der Initiator und Projektleiter verständlicherweise selbst nicht recht zufrieden. Die Faszination des selbst gestellten Themas übertrug sich aber an diesem Abend durchaus auf das recht spärlich erschienene Publikum. (Die Folgeaufführung am Folgetag in der Lukaskirche Landau war dann deutlich besser besucht.)
In diesem Zusammenhang gibt es hier viel zu erklären. Talysh ist eine Region im Nordwesten des Irans (bis hin nach Aserbaidschan) im Südosten des Kaukasus am Kaspischen Meer, Pontos eine historische Region am Schwarzen Meer auf der gegenüberliegenden Seite des Kaukasus, in der sich trotz des brutalen Bevölkerungsaustauschs zwischen der Türkei und Griechenland von 1923 der Kern einer pontosgriechischen Minderheit erhalten hat. Diese Minderheit pflegt im mündlichen Umgang noch das pontosgriechische Idiom, das dem Altgriechischen nähersteht als dem heutigen (neugriechischen) Dimotiki. Auch Talysh ist eine eigene Sprache, die dem Persischen verwandt ist.
Beide Minderheiten kultivieren noch ihre eigene Musikkultur; diejenige des Talysh ist dank der Anstrengungen des Musikethnologen Armin Faridi deutlich besser dokumentiert als die pontosgriechische, zumal viele Pontosgriechen in der Diaspora leben.
Eine wichtige Komponente der Projektpräsentation bildeten Pohlits aktuelle Filmaufnahmen aus beiden Regionen, die sowohl Landschaften als auch authentische Musikpraktiken eindrucksvoll dokumentierten und durch einen älteren Film der vielseitigen Istanbuler Musikerin Anastassia Zachariadou ergänzt wurden. Politische Repression gibt es sowohl in der Türkei als auch im Iran; daher wurde auf politische Aussagen bewusst verzichtet. Die vor einem Jahr noch nicht absehbare Eskalation im Iran führte auch dazu, dass Pohlit für sein Projektensemble keine iranischen Musiker gewinnen konnte. Zu diesem Ensemble gehören aktuell Merve Tanrıkulu (Gesang), Giorgos Poulantsaklis (pontische Lyra und Kemane), Anastassia Zachariadou (Kanun und Flöten) als „pontische“ Musiker(innen). Dazu kommen Batuhan Aydın (Kaval) als türkischer Musiker mit bulgarischen Wurzeln, der ungarische Schlagzeuger Laszlo Hudacsek, der in Istanbul lebende österreichische Musikethnologe und Instrumentenbauer Nikolaus Grill (Taleshi Tanbur und Bassblockflöte), der auch als Koordinator fungierte, und Pohlit selbst an der Santur.
In mehrfacher Hinsicht treffen hier verschiedene Kulturen aufeinander. Die Schwierigkeiten reichen von der sprachlichen Verständigung in Umgang und Probenarbeit über die unterschiedlichen Stimmungssysteme und Fachbegriffe bis hin zu den unterschiedlichen Musizierpraktiken in den beiden Regionen und in der klassischen westlichen Musiktradition. Musikerinnen und Musiker mit schriftloser Tradition der Weitergabe von Lehrer zu Schüler und von Generation zu Generation sind nicht vertraut mit Notenschrift, Partiturangaben und den Schlagfiguren und Impulsen eines Dirigenten. Westliche Musiker wiederum tun sich eher schwer mit dem selbstverständlichen und unabgesprochenen Aufeinanderhören, mit improvisatorischen Praktiken und mit der Gelassenheit eines Musizierens, das den Abstand zwischen Publikum und Podium nicht kennt.
Auf dem Programm stehen, neben Improvisationen über zwei pontische Stücke, ein (von Pohlit arrangiertes) Lied von Merve Tanrıkulu sowie eigene Kompositionen von Stefan Pohlit und Nikolaus Grill, die sich mit der Musik des Pontos und des Talysh auseinandersetzen. Der „schwarze Schäfer“ im Titel ist eine der mythologischen Figuren, die in der einen oder anderen Form in der Großregion präsent sind. Man liest das mit Staunen im Programmheft und wüsste gerne mehr über die Tiefenschichten der beiden Kulturen und ihre Verbindungen nach Europa.
Pohlit bringt hier literarische, mythologische und theologische Kenntnisse ein, wie sie auch schon in seinen 2021 (leider nur auf türkisch) veröffentlichten Roman „Münzevi Adası“ einflossen. Musikalisch rundet sich die Präsentation, jedenfalls an diesem Abend, noch nicht zu einem künstlerisch befriedigenden Gesamtergebnis; zu sehr hat man noch mit Koordinations- und Verständigungsproblemen zu kämpfen. Gleichwohl gibt es Phasen starker musikalischer Intensität in den eher folkloristischen Stücken, aber auch bei den in live die Filmaufnahmen eingeblendeten Kompositionen.
„Das Ganze ist mehr als die Summe der Teile“ – dieser Satz ist mehr als nur eine Redensart. Vermutlich hätte hier gerade das Ganze gewonnen, wenn die einzelnen Teile mehr zu ihrem Recht gekommen wären: Pohlits musikalische Feldforschung, die authentischen Musizierpraktiken der beiden Regionen, die eigenständige kompositorische Auseinandersetzung damit – und nicht zuletzt die Begegnung mit mythologischen Tiefenschichten, die Europa und den vorderen Orient verbinden. Das wäre freilich Programm nicht nur für eine abendliche Präsentation, sondern für ein mindestens zweitägiges Symposion. Lohnen würde sich das und wäre im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung im Iran und das hundertjährige „Jubiläum“ des unglückseligen Bevölkerungsaustauschs von 1923 in der Türkei sogar von einiger Dringlichkeit.