„Wir sind die Letzten. Fragt uns aus“ – die Gesprächskonzerte von „musica reanimata“ leben von der Zeitzeugenschaft, dem Dialog mit Künstlern, die noch Auskunft geben können über den real erlebten Naziterror, über Flucht und Exil, Lebensbrüche und Überlebensstrategien. Trotz des allmählichen Verschwindens dieser „Letzten“ sind hier immer wieder erhellende Begegnungen möglich, etwa mit der 2016 mit 93 Jahren verstorbenen, stets erfrischend klarsichtigen Ursula Mamlok oder mit Walter Arlen, der hochbetagt aus Kalifornien kommend ein lebendiges Bild vom Wien der 1930er-Jahre erstehen ließ.
Tzvi Avni war bereits 1998 zu Gast bei musica reanimata gewesen, zusammen mit dem palästinensischen Komponisten und Musikethnologen Habib Hassan Touma (1934–1998), der die kulturelle Vielfalt Israels rühmte – einen Moment lang konnte man vom friedlichen Zusammenleben in Nahost träumen. Einen „Brückenbauer“ hätte man Avni schon damals nennen können, wie das im jüngsten Gesprächskonzert aus Anlass seines 90. Geburtstages geschah, eine schwierige Position in einem bewegten Leben zwischen verschiedenen Kulturen und Konflikten.
Als Hermann Jakob Steinke wurde Tzvi Avni 1927 als Sohn polnischer Einwanderer in Saarbrücken geboren – „irgendetwas ist mit den Brücken“, meint er scherzhaft. „Gesharim“ (Brücken) heißt auch ein Werk für zwei Violinen, 2004 „meinen Saarbrücker Freunden gewidmet“, womit das Konzert begann und auch schloss. Eine tänzerische, gleichwohl scharfkantig dissonante Musik, der Kolja Lessing und Holger Koch viel Vitalität gaben. Der „östliche Mittelmeerstil“, mit dem Paul Ben Haim und Ödön Partos in Palästina nach einer neuen Musiksprache suchten, prägt auch Avnis Komponieren – ein Schuss Bartók’sche Motorik, ein Anklang an jüdische Melismatik, gar „Kantillation“ ist spürbar, doch atonal gespannter, kompromissloser, keine folkloristisch angehauchte Wohlfühlmusik.
Spannungen prägten schon die Kindheit, wenn nicht unmittelbare Diskriminierung, so doch das Gefühl, „etwas anderes als die deutschen Kinder zu sein“. Keine sechs Jahre alt war Avni bei der Machtübertragung an die Nazis; zwei Jahre später stimmten im französisch verwalteten Saargebiet 85 Prozent der Bevölkerung für den Anschluss an Nazideutschland. Die Eltern erhielten einen „Fremdenpass“, „mein Vater war Zionist; es war Zeit, nach Palästina zu fahren.“ Dort wurde der Familienname „Stein“ genannt, was mit dem hebräischen „Avni“ korrelliert, „Tzvi“ dagegen heißt so etwas wie „Hirsch“. „Die Kinder in der Schule lachten, wenn ich ‚Hermann‘ gerufen wurde.“ Sicherheit gab es aber auch im Gelobten Land nicht: „Als ich elf war, wurde mein Vater von arabischen Terroristen verschleppt. Mit 14 fing ich an zu arbeiten, als Feinmechaniker.“
Der Weg zur Musik war schwer. Erst mit 16 Jahren konnte Avni sich einen systematischen Unterricht leisten. Früh arbeitete er als Musiklehrer, „auch an einer arabischen Schule“, studierte später in den USA an der Columbia University und in Tanglewood, orientierte sich an der Avantgarde der 60er-Jahre. In seiner Jugend hat er auch gedichtet und gemalt, doch Musik ist für ihn „das Tiefste und Stärkste, nicht nur Gefühl, sondern eine intelligente Beschäftigung.“ Für Klavier hat Avni viel geschrieben, etwa „Dedication“ (2006) für den Freund Kolja Lessing, der ihn, da auch Geiger, wiederum ermutigte, für Violine zu schreiben. „Damit tat ich mich schwer, es gibt schon so viel Gutes.“ Er experimentiert mit Elektronik, doch Instrumente behandelt er traditionell. Die kompositorische Verarbeitung der Shoa findet er „peinlich“. So beschwört auch „Echoes from the Past“ für Klarinette, gespielt von Melina Paetzold, sehr behutsam einen vergangenen chassidischen Tonfall. Zwischen all dem erklingt vom Band, aber mit bewegender Direktheit, ein Auszug aus „Se questo un uomo“ für Sopran und Orchester auf Gedichte des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi, aus dessen farbig-dissonanten Schichten das Lied „Santa Lucia“ hervorschimmert. „Wir leben in aggressiven Zeiten, damals wie heute“, kommentiert der kluge, klarsichtige und doch so menschenfreundliche Komponist.