Sicher bringt die Reibung zwischen einem zeitgenössischen Komponisten und seinen Interpreten auf der Bühne und im Graben die Möglichkeit von neuen Einsichten mit sich. Auf der anderen Seite ist es aber ein großer Vorzug, wenn ein Komponist seine Musik auch mal selbst interpretiert. Man weiß dann zumindest, wie er sich das ganze gedacht haben mag. Wenn der dirigierende Komponist dann bei seinem Kerngeschäft auch noch die vorgesehenen Interpreten vor Augen bzw. vor Ohren hatte und obendrein eine Vorstellung in welchem ästhetischen Rahmen die Uraufführung über die Bühne gehen soll – umso besser.
So gesehen waren die Voraussetzungen für den als Dirigenten und als Komponisten geschätzten 63jährigen Johannes Kalitzke geradezu idealtypisch. Bei seinem Auftragswerk der Schwetzinger SWR Festspiele in Koproduktion mit den Bregenzer Festspielen konnte er sich, nach seinen eigenen Worten beim Pressegespräch vor der Premiere, auch noch den langgehegten Wunsch, einmal Musiktheater für Puppen zu komponieren, erfüllen. Wie immer man zu einem solchen Wunsch gelangen mag – dem Manne konnte geholfen werden.
Und weil mit Christoph Werner der Chef eines der renommiertesten Puppentheater des Landes in Halle mit seinem Team für die Umsetzung engagiert wurde, ist dieser aparte Wunsch des Komponisten auch szenisch gut gefangen und nicht bloß eine modische Grenzüberschreitungsübung geworden. Werner hat selbst schon Oper inszeniert und etliche Stücke auf seiner Bühne herausgebracht, in denen Menschen bei seinen Puppenprotagonisten der – mitunter auch musizierende – Stargast waren.
In Schwetzingen ist es umgekehrt – da doubeln zwei seiner Puppen die beiden Hauptfiguren in Kalitzkes großformatiger Kammeroper mit dem zehnköpfigen ENSEMBLE MODERN, inklusive der bei diesem Tonsetzer stilbildenden elektronischen Beimischungen. Da er es vorher erklärt hat, entging dem Hörer zum Beispiel nicht, wie er einen Ton der als Äußerung eines jungen Menschen ansetzte, dank elektronischer Verfremdungsmithilfe, als der eines sehr alten Menschen endete. Im Detail mag man nur hören was man weiß; im Großen muss sich bewähren, dass man nachfühlt, wenn die Musik im Raum entfaltet und „meint“. Bei Kalitzkes jüngster kunstvoll gebauter Komposition trifft beides zu.
Die Vorlage für „Kapitän Nemos Bibliothek“, mit der jetzt die 70. Schwetzinger SWR Festspiele im vollbesetzten Rokokotheater eröffnet wurden, ist der gleichnamige Roman von Per Olov Enquist. Allein daraus ein bühnentaugliches Libretto zu machen, ist eine erhebliche Leistung. Julia Hochstenbach hat dabei naturgemäß vereinfacht und begradigt, aber doch nicht gänzlich das rätselhaft Verstiegene dieser besonderen Selbstfindung zweier Jungen auf dem Weg zu einer eigenen Persönlichkeit und dem Erwachsenwerden weggebügelt. Es bleibt ein Rest von poetisch Ungefährem. Und nur wer immer sofort jeden Gedanken erfassen und verstehen will, wird sie deshalb schelten.
Es geht also um zwei Jungs, die bei ihrer Geburt vertauscht wurden. Der eine ist mit Ich bezeichnet, der andere hat den Namen Johannes. Was heute gelegentlich als Vorlage für leichtkonsumierbare TV-Komödien taugt, ist bei Enquist eine schmerzvolle Verlusterfahrung, die von allerlei Katastrophen begleitet wird. Als der Irrtum den Jungen mit etwa sieben Jahren ins Gesicht geschrieben und von niemandem zu übersehen ist, werden sie zurückgetauscht. Damit die göttliche Ordnung nicht durcheinandergerät und weil Blut dicker ist als zum Beispiel Erziehung, Gewohnheit, Neigung und so weiter. Aber dieser scheinbare Akt der Ordnung ist der Beginn von Verwerfungen und einer Dauerkrise, die dazu führt, dass am Ende jenes Grüne Haus, in dem erst einer, dann der andere Junge daheim waren, in Flammen aufgeht. Aber nicht als destruktive Zerstörung und kindliche Brandstiftung, sondern als Akt der Befreiung.
Da haben die beiden nur noch ihre menschliche Gestalt der jungen Erwachsenen, die sowohl der russische Countertenor Iurii Iushkevich als Ich als auch Sopranistin Johanna Zimmer als Johannes höchst glaubwürdig verkörpern. Wenn sich beide an die traumatische Zeit erinnern, in der sie ihre soziale Identität gegen ihren Willen wechseln mussten, kommen die von je zwei Puppenspielern geführten Puppendouble ins Spiel. Als jeweils jüngeres Alter Ego. Was in dieser Erzählstruktur kein bisschen angesetzt, sondern höchst überzeugend wirkt.
Die beiden menschlichen Protagonisten waren auch schon zu Beginn über den Zuschauerraum auf die Bühne gekommen, so als beträten sie einen magischen Ort der Erinnerung. Angela Baumgart hat die Bühne mit einer verglasten Kuppel versehen, durch deren Fenster man die Welt sehen kann. Conny Klar hat dafür animierte Videos produziert, die das Dorf zeigen, das grüne Haus oder auch die Unterwasserwelt, wenn sich die Jungs in die – vielleicht nur in ihrer Phantasie existierende – Bibliothek Nemos zurückziehen. Immer wenn der Gang der Handlung unterbrochen wird, und es eins der fünf Bilder mit dem Titel „Kapitän Nemos Bibliothek“ gibt, meint man mit der Nautilus auf Fahrt zu sein.
Die vier Teile mit den fünf reflektierenden Unterbrechungen in „Kapitän Nemos Bibliothek“ wechseln musikalisch zwischen theaterwirksam ruppig unterlegtem Parlando, atmosphärischen Momenten der Besinnung und Paukenschlägen der Zuspitzung. Wir erleben ein von individuellen Katastrophen begleitetes Erwachsenwerden, das in dem zwischen Traum und Wirklichkeit changierenden Raum eine kongeniale Entsprechung findet. Neben den beiden Jungs und ihren kindlichen Puppen-Double für deren lebendige Anmutung die Puppenspieler Ines Heinrich-Frank, Franziska Rattay, Lars Frank, Nico Parisius ihr Können nahezu unsichtbar einsetzten, ist Noa Frenkel mit den beiden Mutterrollen gefordert. Wobei eine der Mütter, Alfild, weggesperrt wird und stirbt und auch die andere, Josefine, mit den Verlusten in ihrem Leben nicht fertig wird. Reuben Willcox verkörpert den Pastor und den einen noch vorhandenen Familienvater Sven Hedmann. Rinnat Moriah ist jene Pflegetochter Eva-Lisa, die zwar zu einem der Jungs Vertrauen fasst, aber von einem Jungen aus dem Nachbardorf schwanger wird, eine Fehlgeburt hat und stirbt. Zu lachen hat hier niemand was. Wenn die Jungs sich am Ende darauf vorbereiten ihre Nautilus zu versenken, haben sie möglicherweise eine Chance. Aus dem Bann der Bühne in Schwetzingen gelingt ihnen am Ende immerhin der Ausstieg……