Da hat jemand die Kleinschreibung gut überlegt: „strukturwandel – neues hören und sehen“ heißt doppeldeutig ein Projekt, das – im Rahmen des bundesweiten Netzwerks Neue Musik – seit 2008 für vier Jahre beim Netzwerk Musik Saar e.V. läuft. Man kann den Titel objektbezogen lesen: Das Publikum soll hörend und sehend etwas Neues entdecken. Man kann ihn aber auch subjektorientiert verstehen: Das Publikum findet zu neuen Hör- und Sehweisen. Letztlich geht es um verschiedene Facetten desselben Prozesses. Das Leben ändert sich, mit ihm aber auch die Wahrnehmung und die künstlerischen Ausdrucksweisen.
„Strukturwandel“ ist gerade im Saarland ein wichtiger Begriff. Mehr als 150 Jahre lang war die Region geprägt von Bergbau und Montanindustrie. Nun wird umgesteuert in Richtung Dienstleistung und Hochtechnologie – ein langwieriger, manchmal schmerzhafter Prozess. Dass Neue Musik bei dessen Wahrnehmung und Bewältigung eine größere Rolle spielen könnte, ist Idee des Netzwerks Musik Saar: „Die Neue Musik“, so die bemerkenswerte Begründung des Projekts, „ist hierfür besonders geeignet, da Musik wie keine andere Kunstform eine direkte emotionale Wirkung entfaltet. Die Neue Musik hat darüber hinaus in den letzten Jahrzehnten selbst einen strukturellen Wandel vollzogen und ist in der Lage, ihre Ausdrucksformen konkreten Situationen anzupassen.“
„Himmel – Hölle – Ciel – Enfer“ heißt die jüngste, in Zusammenarbeit mit dem Saarländischen Staatstheater und dem Théâtre National du Luxembourg entstandene Produktion der Strukturwandel-Reihe. Doch wenn die Absicht dahin geht, „in Form von instrumentaler oder elektronischer Musik und Klanginstallationen Natur-, Umwelt- und Arbeitsgeräusche (zu) verarbeiten und so die Wahrnehmung des Publikums auf seine tägliche Umgebung (zu) schärfen“, so fallen die „Sieben szenischen Aktionen mit Musik“ aus dem Rahmen. Alfred Gulden (Text und Regie) und Christof Thewes (Musik) setzen eher auf distanzierende Abstraktion. Grund genug dafür haben sie. Denn Guldens Gedichtzyklus „Cattenom oder Die vier apokalyptischen Reiter“ thematisiert eben nicht die alltägliche Präsenz des seit Jahrzehnten berühmt-berüchtigten Kernkraftwerks jenseits der französischen Grenze, sondern den möglichen Fall einer von diesem Ort ausgehenden atomaren Katastrophe. Implizit geht es um einen noch ausstehenden Strukturwandel – weg von einer Risikotechnologie zu menschen- und fehlerfreundlicheren Formen der Energiegewinnung.
Apokalyptische Vorstellungen wie die des „Größten anzunehmenden Unfalls“ setzen bei Künstlern und beim Publikum oft heftige Energien und Emotionen frei. Alarmismus, Agitprop oder Betroffenheitspathos liegen nahe – und führen meist dazu, Meinungen zu polarisieren, statt Sensibilität zu erzeugen. Der vermeintlich sachliche Jargon von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik hingegen blendet die existentielle Gefährdung oft aus. Klug steuern Gulden und Thewes ihr Projekt zwischen diesen beiden Klippen hindurch. Als Kompass dient ihnen dabei die Sprache, präziser: der moselfränkische Dialekt, in dem Guldens Gedichte entstanden sind. Er wird auf deutscher, französischer und luxemburgischer Seite gesprochen; im Großherzogtum genießt er als „Lëtzebuergesch“ sogar den Status einer Amtssprache.
Wo die Hochsprache ins Pathos verfällt, tendiert die Mundart zur Nüchternheit. Der Dichter kriecht sozusagen ins alltägliche Denken und Sprechen der Menschen hinein und kriegt damit eine Situation zu fassen, die vor allem von Fassungslosigkeit geprägt ist. Dies gilt sogar für die hochdeutsche und französische Übersetzung. Bildhafte Assoziationen mischen sich mit Bruchstücken von Gebeten, Erinnerungsfetzen und Kinderreimen. Im Wechsel der Sprachen liest Gulden seine Texte teils vor, teils rezitiert er sie ausdrucksvoll, manchmal sogar im Duett mit einem der Instrumentalisten. Oder die Mezzosopranistin Angela Lösch singt sie in eigenwillig-expressiven, an Neuer Musik geschulten, aber doch ruhigen Melodielinien.
Christof Thewes’ Musik für das als Begleitensemble fungierende Undertone Project (mit ihm selbst an der Posaune) kommt vom Jazz her, lässt aber auch Kinderlied und Choral anklingen. Einleitung und Epilog tönen ein bisschen nach Alarm und volkstümlichem Radau. Die Instrumentalisten ziehen dazu nach Art eines Spielmannszugs ein und wieder aus. Als Regisseur arbeitet Gulden mit den schlichten Mitteln eines aus der italienischen „Arte Povera“ entwickelten „Armen Theaters“. Zusammen mit der Sängerin malt er etwa mit Kreide auf die Bühne. Was nach Kinderzeichnung aussieht und zum (hier durchaus symbolträchtigen) Blinde-Kuh-Spiel animiert, erinnert im nächsten Moment an die Umrisszeichnung bei einer polizeilichen Unfallaufnahme.
Eigentlich, meint man als Zuhörer, müsste das Stück auch als Straßentheater funktionieren. So aber bleibt es einer kleinen Runde von Kennern und Neugierigen vorbehalten. Und vorerst gibt es nur diesen einen Termin in Saarbrücken; ein weiterer in Luxemburg soll folgen. Dass eine Aufführung auf französischem Boden gar nicht erst geplant ist, liegt weniger an der spezifisch französischen Liebe zur Atomenergie, sondern schlicht daran, dass dem Netzwerk Musik mit dem Wegfall des Forbacher Festivals „Rendez-vous Musique Nouvelle“ seit 2005 auf französischer Seite der Kooperationspartner abhanden gekommen ist.
Eigentlich, so vernimmt der Auswärtige nicht ohne Respekt, ist die Neue Musik im kleinen Saarland erstaunlich gut aufgestellt. Schon 1995 taten sich Vertreter der Hochschule für Musik, des Saarländischen Rundfunks, des Staatstheaters, der Hochschule für Bildende Künste und der Universität zum Förderverein „Netzwerk Musik Saar“ zusammen. Zahlreiche weitere Kooperationspartner (wie jetzt das Undertone Project) treten von Fall zu Fall hinzu. Für 2011 liegt ein Programm vor, das die Reaktionsfähigkeit der Neuen Musik auf gesellschaftliche Bedingungen eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Einen Monat nach „Himmel – Hölle – Ciel – Enfer“ werden in „The Yellow Shark 20“ Saarbrücker Vertreter asiatischer und westlicher Kampfsportarten auf der Bühne des Staatstheaters zu zeitgenössischer Musik agieren. Das Landesjugend-Symphonieorchester erarbeitet im Frühjahr ein Auftragswerk des Komponisten Franz Martin Olbrisch, bei dem die begleitete Live-Elektronik von der bei Jugendlichen beliebten Spielkonsole Wii gesteuert wird. Und vom 14. September bis 24. Dezember findet unter dem Titel „Pandoras Box“ eine vielteilige Hommage an Mauricio Kagel statt. Innerhalb dieses Programms wird auch eine vom Komponisten Johann B. Sistermanns konzipierte Automobilmusik Kagels Stück „Eine Brise“ (für 111 Fahrradfahrer) gegenübergestellt. Da wird dann der Strukturwandel in mehrfacher Hinsicht erfahrbar werden.