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Es ist dunkel. Nichts, an dem sich das Auge festhalten kann. Es ist ein bißchen so, wie Radio hören in einem finsteren Raum. Und doch ist es spannender. Denn man weiß ja, daß da vorne, vor der ersten Zuschauerreihe, noch eine Bühne ist. Vielleicht wird sie sich erhellen? Sie wird. Doch erst einmal bietet das neue Musiktheaterstück von Carola Bauckholt „Stachel der Empfindlichkeit“ Material für die Ohren an, das nur blitzlichtartig von optischen Minieindrücken begleitet wird. Es erinnert ein bißchen an Musique concrete.
Motorengeräusch. Ein Moped? Vielleicht. Ein Lichtkegel kreist mehr als einmal für Sekunden durch den Zuschauerraum, ist aber mehr irritierende Lichtquelle als wirkliche Erhellung. Später wird man Hundegebell vernehmen. Irgendwann kommt die Ungewißheit: Sind die gleißenden Töne Instrumenten oder Maschinen zuzuordnen? Nach und nach heben sich Celli – akustisch wie optisch – aus der Finsternis heraus, erlangen für Auge und Ohr Konturen. Das Schlagquartett Köln, das das neue Werk der vielfach ausgezeichneten Komponistin im Stadttheater Bielefeld gemeinsam mit dem Cello-Trio „Blu“ uraufgeführt, bleibt jedoch noch länger ein Geheimnis. Dunkle Rhythmen der Holztrommel sind zwar auszumachen, aber vieles ist fremd. Die Kölner Schlagzeuger haben Instrumente ersonnen. Schwirrhölzer sind dabei, Konstruktionen aus Holz und Faden, die wie ein Lasso in der Luft geschwungen werden, oder Plastikgueros. Das ist ein Klirren, Knacken und Zischen...
Doch dann ist Zeit für die Bühnendämmerung. Streiflichter sind der Beginn der Erhellung in einem dunklen Guckkasten-Raum. Doch der Raum entwickelt sich, und mit ihm die ganze Szenerie, nach und nach: Wenn sich die Rückwand öffnet und eine Art Bildschirm freigibt, auf der schillernde Lichter auf Linien vorbeiflackern, ist der Zuschauer noch ein wenig ratlos. Später wird klar: Hier ist eine Fahrt durch die Nacht gefilmt. Die Lichtpunkte erhalten Profile: vorüberzie-hende erleuchtete Häuser, Straßenlaternen, Akzente der Straße. Die Konturen wachsen, die Landschaft wird heller, die Lichter werden jetzt ganz durch Konkretes ersetzt: Felder, Gebäude, Bäume. Die Perspektive wird klar: Man schaut durch das Fenster eines Zuges, das mit Regentropfen benetzt ist. Und mittendrin, in dieser irren Realitätscollage sind sie, A und B, zwei menschliche Wesen. Sie versuchen zu kommunizieren, doch ihre Worte versteht man nicht. Erst am Ende fallen ein paar klare Sätze. Doch ihre Beziehung zueinander bleibt nebulös. Was der Zuschauer aber versteht, ist die hohe Kunst, mit der Kontratenor Charles Maxwell und Sopranistin Annette Robbert hier den Balanceakt zwischen beherrschter Gesangskultur und verwandten Ausdrucksfeldern der Stimme begeisternd meistern. Carola Bauckholt stellt hohe Anforderungen für eine Botschaft, die nicht durch Worte getragen wird, sondern sich über das Gefühl und die Gesamtheit der Eindrücke erschließt: Existentielle Bedürfnisse wie der Wunsch nach Verständigung. Doch dafür ist erst die Kehrseite zu bekämpfen: Die Isolation, die nicht nur den Menschen unserer Zeit aufgegeben ist. Denn der Bogen dieser überaus beeindruckenden Bielefelder Produktion geht noch weiter, und zwar zurück. Die mythologische Dido schon ist eine Isolierte, da Verlassene, als ihr geliebter Aeneas aufbricht, um wichtige Staatsgeschäfte zu erledigen.
Und so wird das tiefsinnige Seelenporträt Henry Purcells der Uraufführung des Bauckholt-Werkes vorangestellt, im doppelten Sinne: Der Auftrag an die Komponistin lautete, ein Stück zu schreiben, das gemeinsam mit der Purcell-Oper aufführbar ist. Sie hat einen roten Faden gesponnen: Die Sehnsucht der Seele spendet den Zusammenhang und sitzt wie ein Stachel.