Gutes Musiktheater steckt bekanntlich voller Überraschungen. Da gibt es Männer, die eigentlich Frauen sind (und umgekehrt), da gibt es Intrigen, Tragöden, Verwechselungskomödien und mancherlei Art von doppeltem Boden, beinahe nie geht eine Oper so aus, wie es am Anfang noch scheinen mochte.
Wenn es dann noch eine Ansage vor Beginn der Premiere gibt, weiß man ohnehin schon, dass hier was schiefgegangen ist bzw. schiefgehen wird. So war es jüngst auch an der Oper Leipzig, wo Intendant Ulf Schirmer vor den Vorhang trat, um – zu beschwichtigen. So macht man das ja, wenn unangenehme Nachrichten zu überbringen sind.
Aber stellen wir uns einmal vor, es hätte diese Ansage gar nicht gegeben oder man wäre zu spät in den Saal gekommen und hätte sie nicht gehört. So oder so hätte man eine klangstarke „Lucia di Lammermoor“ erleben können, deren Belcanto schon im Orchestergraben geradezu aufblühte, um die prächtigen Stimmen der Sängerdarsteller wechselseitig zu schmücken. Man hätte sich über das Gewandhausorchester ebenso gefreut wie über Anthony Bramall, dem als Stellvertretenden Generalmusikdirektor des Hauses die musikalische Leitung oblag. Der Brite erfüllte den Saal schwelgerisch spannend mit italienischer Opulenz, die so gar nicht im Widerspruch stand zu den großartigen Prospekten von Bühnenbildner Momme Röhrbein, der faszinierende Theatermalereien schottischer Landschaften entwarf. Man hätte Angelika Riecks Kostüme gesehen, die ziemlich original dieser Geschichtsgegend zu entstammen scheinen, und wäre in die Zwistigkeiten verfeindeter Clans sowie in die Liebesangelegenheiten von deren Nachwuchs eingetaucht. Nicht von ungefähr gilt Gaetano Donizettis „Lucia di Lammermoor“, 1826 nach Walter Scotts Roman „The Bride of Lammermoor“ entstanden, als beste Romeo-und-Julia-Geschichte der Schotten. Nur dass es hier um die Rivalität zwischen Ashtons und Ravenwoods geht.
Tragisch wie einst bei Shakespeare, schaurig-schön wie bei Ivanhoe, man hätte das alles gesehen und hätte sich mitreißen lassen von einem Ensemble grandioser Stimmkultur. Antonio Poli als Liebhaber Edgardo, Todfeind der Familie Lucias und zugleich der Geliebte dieser jungen Frau, er singt voller Schmelz und mit Strahlkraft in seiner Stimme. Mathias Hartmann gibt dessen Gegenspieler, Lucias Bruder Enrico, mimt etwas steif, kompensiert dies aber mit berührendem Bariton. Zwangsgatte Lord Bucklaw (Sergei Pisarev) soll den klammen Ashtons beispringen und dafür die schöne Tochter erhalten – die ihn jedoch umbringt und fortan in Wahnsinn verfällt.
Und dann hätte man eben auch SIE gesehen: Lucia! Die Lucia der Anna Virovlansky. Eine Schönheit, der eine faszinierend schöne Sopranstimme entströmt. Enorm gelenkig im Timbre, ziemlich gestaltungssicher bis in die Höhen. Eine Sängerdarstellerin mit enormem Potential, der gewiss nicht nur an dieser Stelle eine große Zukunft vorausgesagt werden kann. Sie stammt aus St. Petersburg, ist in Israel ausgebildet worden und hat bereits an zahlreichen deutschen und europäischen Häusern gesungen; das Tor zur Weltkarriere scheint aufgestoßen zu sein. Aber: Die Frau hat ein Handicap, sie ist an den Rollstuhl gefesselt, wirkt so aber in dieser Partie noch überzeugender Begehren und Mitleid erregend zugleich. Auf der durch die opulente Ausstattung künstlich verkleinerten Spielfläche beherrscht sie das mitunter viel zu bezugslose Treiben, kündet von Hingabe, Liebe und Wahn mit fast zornigem Trotz.
Zumeist wird ihr Gefährt von einer schwarzen Schattenfrau über die Bühne geschoben, einem mütterlichen Geist, der vorzüglich ins Geflatter der Hexenwesen passt. Diese „Hilfskraft“ ist niemand anders als die Regisseurin der Neuproduktion, Katharina Thalbach. Hätte man des Intendanten Ansage tatsächlich nicht gehört, spätestens hier wäre klar geworden, woran man ist. Denn Thalbach gibt ihrem Affen Zucker und zeigt sich selbst da komödiantisch, wo ringsum todernste Stimmung herrscht.
Die Auflösung des Ganzen: Anna Virovlansky hat sich in den Endproben zur Leipziger „Lucia“ einen Bänderriss zugezogen, konnte daher nicht auf-treten. Daher die Rollstuhl-Variante, die man allerdings auch in späteren Vorstellungen beibehalten sollte, weil dieser Eindruck sehr überzeugt und über so manches Rampengestehe der nur scheinbar wilden Männer mit ihren Schottenröcken sowie auch des wieder sehr klangstarken Opernchores hinwegtäuschen kann.
Termine: 2., 10.12.2016, 1.1., 25.2., 6.5.2017