„Die einzige ganz lichtlose Nacht ist die Nacht der Unwissenheit und der Gefühllosigkeit“ hat die schon als Kind erblindete Helen Keller zeitlos hellsichtig formuliert. Regisseurin Lydia Steier und Frankfurts Operndramaturgie banden einen lange unwissend Blinden und eine ihre Blindheit durch Gefühle Überwindende zusammen.
Das Thema „Blindheit“ sollte auf der Frankfurter Bühne zwei tief unterschiedliche Werke verbinden – eine musikalische wie szenische Herausforderung. Zwar trennen nur rund dreißig Jahre Tschaikowskys letzte Oper von Strawinskys Hinwendung zu streng geformten antiken Stoffen, doch die Klänge liegen Welten auseinander. Tschaikowsky bleibt der Spätromantik verhaftet, zeigt in Sehnsuchtssteigerungen, dass er Wagners „Tristan“ verarbeitet hat und greift in Iolanthas märchenhaftem Blumenreich im Zusammenklang von Harfe, Holzbläsern und zarten Streichern Errungenschaften des musikalischen Impressionismus auf. Strawinsky will geradezu „brechtisch“ keine Einfühlung, sondern den Zuschauer die abgrundtiefen Verstrickungen von Ödipus und Iocaste auch klanglich erschreckend, sprich hartkantig und unschwelgerisch, vorführen. Dank der kontinuierlichen Zusammenarbeit hat GMD Sebastian Weigle mit dem Frankfurter Museumsorchester ein musikdramatisches Differenzierungsvermögen erreicht, dass beide Klangwelten in spannendem Kontrast tönten. Dass entgegen der anfänglich geplanten Reihenfolge nun Iolanthas Sehen und der Hymnus an göttliches Liebes-Licht am Ende standen, sicherte einen Schlussjubel, der auch schon der gelegentlich exzessiven Brachialität und ungeschönten Bitterkeit Strawinskys gebührte – und zwei sich teils überschneidende, teils exquisit divergierende Solistenensembles einschloss: nach zwei fulminanten Eröffnungspremieren des derzeit auch international mit Preisen ausgezeichneten Opernhauses ein weiterer Frankfurter Triumph abseits ausgetretener Repertoirepfade.
Der Beifall wurde nur für Regisseurin Lydia Steier und ihr Bühnenteam ein wenig schwächer, denn sie hatten das Premierenpublikum herausgefordert. „Die symbolische Macht des Sehens und damit Wahrheit selbst zu befragen, erscheint mir heute dringlicher denn je“ sagte Lydia Steier vorab und zitierte die Positionen „Ignorance is bliss – Unwissenheit ist Seligkeit“ (Thoms Gray) und „Die Wahrheit wird euch frei machen“ (Johannes 8,32). Zusammen mit ihrer Bühnenbildnerin Barbara Ehnes rückte sie deshalb beide Werke gesellschaftspolitisch unbequem „näher“.
Ödipus ist ein einstmals intelligent ein Staatswesen von einer Bedrohung befreiender, jetzt überfordert wirkender Politiker in einem an Weimarer Endverhältnisse erinnernden Ambiente: ein dunkelgrau-schwarzer, parlamentarischer Sitzungssaal mit ebenso gekleideten Abgeordneten zwischen Zylinder und Gehrock, Uniform und Stahlhelm (raffiniert abgestufte Kostüme von Alfred Mayerhofer); Kreon agiert wie ein zweiter Mussolini (körperlich und baritonal wuchtig Gary Griffith); die abermals hochschwangere Iocaste ist mit sexy rotem Abendkleid-Dekolletee und grässlich braunroter Mähne eine Zusammenschau aller Diktatorengattinen (was Tanja Ariana Baumgartner perfekt singschauspielerte) – und dazwischen steht ein zunehmend wissender, dementsprechend schwächelnder Ödipus, was Peter Marsh gezielt „unheldisch“ gelang. Dann scheint Regisseurin Steuer ein wenig der „horror vacui“ umgetrieben zu haben: auf der im Hintergrund aufragenden Fassade eines neoklassischen Herrschaftsgebäudes projizierte das Team „fettfilm“ Horrorbilder von Vaters Laios Tod, ödipalem Schrecken und erotischen Ausschweifungen; auf der Bühne wurde ein beulenbedeckter Pestkranker von Pflegern in Gasmasken herein- und herausgeschleppt; Ödipus wie Iocaste tänzeln bemüht und unfrei über die Abgeordnetentische… vieles mehr und am Ende dreht die Bühne und die kleine Antigone führt den blinden Ödipus an der erhängten Iocaste vorbei Richtung Kolonos ins Dunkle – da war vieles für die erfreulich erkennbare Nähe der Problematik zum Heute verzichtbar.
Szenenbeifall als sich der Vorhang zu Iolanthas Welt öffnete: ein märchenhaft künstliches Mädchenparadies mit Wänden voller Iolantha-Puppen – alles ein Alp in penetrantem Rosa; da alle für die blinde Iolantha „gleich“ sind, tragen alle uniforme Gesichtsmasken – außer dem Vater, einem unter Ausbeuterbedingungen Iolantha-Puppen produzierendem Multimillionär… und dann kommt der dramaturgische Faustschlag: Erkenntnisse der Tiefenpsychologie aufgreifend, sieht Regisseurin Steier Iolantha Blindheit als Reaktion auf das inzestuöse Verhältnis mit dem Vater! Der schwankt zwischen autoritär überspielten Schuldgefühlen und Verdrängung in Form überbordender Fürsorge für „das geliebte Kind“ – was Bass Robert Pomakov zwischen erneuter Verführung Iolanthas und Pistolengefuchtel gelungen unsympathisch vorführte.
Der dramaturgisch wenig überzeugend als Wanderer mit Rucksack hereinschneiende Vaudemont, der dann eindringlich Iolanthas Wunsch nach Liebe und Licht weckt, konnte durch AJ Glueckerts Tenor weitgehend mithalten – mithalten mit der das ganze Haus durchglutenden Intensität von Asmik Grigorian: mädchenhafte Lyrik, schüchterner Zauber, aufleuchtende Sehnsucht, brennende Begeisterung, lodernde Freude – alles wurde unangestrengter, faszinierender Sopran-Klang. Wieder wäre auf vieles Beiwerk bis hin zur filmischen Verdoppelung von Iolanthas Verführung durch den Vater-Boss zu verzichten, denn mit dem schon als Teresias aufhorchen lassenden Andreas Bauer stand ein arabischer Arzt namens Ibn-Hakia auf der Bühne: er verströmte im konzentrierten Spiel mit einem balsamisch volltönenden Bass die ganze Grandezza eines nahöstlichen Medicus, der Heilung weiß: Iolantha muss selbst wünschen, „sehend“ zu werden. Dieser Konflikt zwischen westlicher Macher-Medizin und östlichem Heilungswissen ging eher unter. Konsequent aber führte Regisseurin Steier ihren Ansatz zu Ende: die sehende Iolantha bleibt gemäß tiefenpsychologischer „Introjektion“ dem Vater liebend gewogen, hindert ihn umarmend am Selbstmord. Mit all dem im Spiel und „Davon-singen-Müssen“ traf Asmik Grigorian einfach ins Herz – ein singuläres Erlebnis!