Noch 1910 war Schönbergs Werk nicht nur in weiteren, musikalischen Kreisen fast völlig unbekannt, nicht nur seinem Wert und seiner Bedeutung nach umstritten, sondern es wurde von der weitaus überwiegenden Mehrzahl führender Musiker und Musikbeurteiler als völlig undiskutabel, ja als böswillige und absichtliche Irreführung zurückgewiesen. Heute hat es sich, mögen die Beurteilungen auch auseinander gehen, jedenfalls als eine nun einmal bestehende Erscheinung des Musiklebens, die als solche ernst zu nehmen ist, völlig durchgesetzt, ja, es ist sogar in den Brennpunkt des Interesses vorgedrungen, während jene absolut ablehnenden Stellungnahmen an die Peripherie der Mißvergnügten zurückgetreten sind.
Vor 100 Jahren: Arnold Schönberg
Abgesehen von den in diesem Werk liegenden Qualitäten selbst waren es zwei Umstände, die den raschen Durchbruch nach langem und erbittertem Widerstand ermöglichten: einmal der leichtere Sieg ähnlicher Erscheinungen in den Schwesterkünsten, andererseits die außerordentlich tiefgreifende Wirkung Schönbergs auf die nach ihm heraufkommenden Talente. Kein anderer Meister der letzten Zeit, weder Strauß noch Mahler, noch Reger, hat in ähnlicher Weise Schule gebildet, in ähnlicher Weise die jüngeren Begabungen angezogen. Außer der Gruppe seiner Schüler im engeren Sinn, unter denen Alban Berg und Anton v. Webern die hervorstechendsten sind, hat er auf jedem Gebiet des zeitgenössischen Musikschaffens tiefgreifende, ja umstürzende Wirkungen verursacht; und wenn die stärksten Begabungen jenseits seines Einflusses ihre eigene Haltung gefunden haben, so ist doch nicht zu übersehen, daß sie wesentliche Elemente von ihm aufgenommen haben. So ist das Opernschaffen eines Schreker, eines Wellesz nicht ohne ihn zu denken; die Verschiebung des Schwergewichts der neueren Komposition von der Symphonie auf die Kammermusik geht (neben Reger) auf ihn zurück; deren stärkste Vertreter, Hindemith und Krenek haben von ihm gelernt. Die Widerstrebenden aber sind unverkennbar in den Hintergrund gezwungen, ja mehr oder weniger in eine Gefolgschaft in weiterem Abstand gedrängt; denn wo die stilistische Haltung ihrer Werke im ganzen seinem Einfluß widerstand, mußten sie doch im einzelnen Wirkungsmittel von ihm annehmen, um nicht völlig überrannt zu werden.
Die Tatsächlichkeit dieser Situation läßt sich nicht leugnen, und es lassen sich aus ihr nur zwei Konsequenzen ziehen: entweder Schönbergs Werk mit seinen Auswirkungen, wenn auch bedingt, anzuerkennen, oder mit ihm zugleich das gesamte neuere Musikschaffen repräsentativen Charakters zu verwerfen. In der Tat werden beide Standpunkte heute vertreten. Die Entscheidung zwischen ihnen ist keine Frage des musikalischen Geschmacks, sondern eine solche des kulturellen Gewissens. Wir wollen und brauchen ein für unsere Zeit originales Musikschaffen; wer das, was wir besitzen, für eine Verirrung hält, der suche auf es einzuwirken, es auf eine andere Bahn zu bringen. Wer gleichgültig oder prinzipiell ablehnend beiseite steht, der verzichtet auf die Musik als eine selbständige künstlerische Leistung unserer Zeit.
Der hervortretendste Wesenszug im Schönbergschen Schaffen ist die beispiellose Intensität, mit der er das einmal ergriffene Problem behandelt. Ein phänomenales klangliches Vorstellungsvermögen, verbunden mit rastloser Übung und peinlichster Selbstkritik, macht ihn zu einem vollendeten Beherrscher aller satztechnischen Mittel seiner Zeit. Aber er macht sich das Komponieren nicht leicht; alles, was er anfaßt, wird ihm zum Problem. Er bleibt bei keiner Gegebenheit stehen; hinter jedem erreichten Ziel tun sich neue Fragen, neue Ziele auf. Er ruht nicht aus bei einer einmal gewonnenen Technik, um sich in einer Reihe gleichartiger Werke auszuströmen; stets greift er nach Neuem, sucht das Unbekannte zu bewältigen. So ergibt sich das eigenartige Bild, daß kein Werk dem andern gleicht, daß jedes dem vorhergehenden gegenüber einen entschiedenen Schritt nach vorwärts bedeutet. Das hat anfänglich das Verständnis seines Schaffens außerordentlich erschwert; als man das Streichsextett und die Gurrelieder zu begreifen begann, stand er bereits bei der Kammersymphonie, die von dort aus als völlig absurd erscheinen mußte; und als man sich ihr endlich näherte, da war sein Schaffen in ein Stadium nunmehr hoffnungsloser Verirrung vorausgeeilt. Fast von Jahr zu Jahr kann man die Korrektur solcher Urteile in der zeitgenössischen Musikschriftstellerei feststellen. Es ist heute leicht, mit Befriedigung festzustellen, daß die ersten Werke stark von Wagner abhängig und „gar nichts Besonderes“ wären; zur Zeit ihrer Entstehung waren sie etwas Besonderes, und zwar so sehr, daß die meisten von ihnen zehn oder mehr Jahre auf die erste Aufführung warten mußten. Diese Verzögerung hat ihrerseits wieder das Bild des Schönbergschen Schaffens ungünstig verschoben, denn inzwischen waren häufig die bei ihm zuerst auftretenden satztechnischen Mittel von anderer Seite her in abgeschwächter, popularisierter Form bekannt geworden. So gelangten z. B. seine beiden musikalischen Bühnenwerke, die vor 1914 geschrieben sind, beide erst in diesem Jahr zur Uraufführung, nachdem inzwischen manches bereits auf-geführte und bekannte Werk von ihnen gelernt hat.
In seiner Isolierung behält fast jedes einzelne Werk jenen problematischen Charakter, den es im Augenblick seiner Entstehung hatte. Dieser hängt nicht mit technischen Unzulänglichkeiten zusammen; im Gegenteil, jedes vorschwebende Ziel weiß Schönberg mit absoluter technischer Sicherheit in Klang umzusetzen. Aber er tut es immer nur einmal, immer nur in dem Augenblick, wo ihm das Problem erscheint. Daran entflammt sich seine Schöpferkraft und wirft das Werk in vollster Konzentration in meist überraschend kurzer Zeit hinaus. Die Verbreiterung überläßt er den andern. Daraus erklärt sich auch die verhältnismäßig geringe Zahl seiner Werke, die nur die einzelnen hervortretenden Stationen eines langen Weges sind.
Noch in anderer Richtung wirkt jene Intensität sich aus. In den Frühwerken führt sie zu einer beispiellosen Häufung der Klangmassen; die Klangquantität wird übersteigert, nirgends ist der dynamische Raum vom pp zum ff größer als bei Schönberg. Er erkennt bald die hierin gezogene Grenze und die Intensivierung richtet sich umgekehrt auf das Detail. Von dort ab beginnt jenes bohrende Eindringen in die Probleme der Harmonik, der Rhythmik, der Instrumentation, die zu einer völligen Auflockerung der Struktur, zu einer unerhörten Differenzierung führt. Jede kleinste Nebenstimme erhält ihr eigenes Leben und damit die Kraft und das Bedürfnis, sich melodisch, harmonisch, rhythmisch und als Klangfarbe auszuwirken und durchzusetzen. Damit entsteht jener polyphone Reichtum der späteren Werke (schon von der Kammersymphonie ab).
Von hier aus mußte eine Rückwirkung auf die Ausführenden, die Spieler, eintreten. Schönbergs differenzierte Kunst verlangt eine peinlichste Ausführung der bis ins kleinste dynamische und rhythmische Detail ausgeschriebenen Parte. Auch für die mit wenig Spielern besetzten Kammermusikwerke ist eine sehr große Zahl von Ensembleproben nötig, um das erforderliche zuverlässige Zusammenwirken zu erreichen. Häufig wurden anfänglich Schönbergsche Werke als „unausführbar“ zurückgewiesen; häufig kamen Mißerfolge auf die Rechnung unzulänglicher Vorbereitung und Ausführung (namentlich bei den Orchesterstücken Op. 16). Schönberg hat sich schließlich selbst seine ausführenden Organe in kleinen Kammerorchestern geschaffen, die unter seiner Leitung durch ein bis dahin unbekanntes, minutiöses Proben die Aufführungen vorbereiteten. Der erzieherische Einfluß dieses Studierens hat weit hinaus gewirkt.
Freilich ist dabei ein Moment nicht zu übersehen: genaueste Detaillierung der Vortragsbezeichnung und des Ensembleeinstudierens nehmen dem Musizieren alles Improvisatorische, machen es maschinenhaft, fast marionettenhaft. Für die Schönbergschen Spätwerke ist eine andere Technik der Ausführung allerdings nicht denkbar; für die Musik aber wäre die dauernde Ausschaltung jeder individuellen Zugabe des Spielers zweifellos ein großer Verlust.
In ähnlicher Weise erzieherisch hat Schönbergs Tätigkeit als Kompositionslehrer gewirkt. Seine „Harmonielehre“ ist eine pädagogische Leistung ersten Ranges, die gerade nach der pädagogischen Seite hin hoffentlich noch stark auf unser Musikunterrichtswesen einwirken wird. Vereinigt sie doch größte Freiheit der Entwicklung des Schülers mit schärfster Kontrolle nicht nur der Ergebnisse, sondern auch des Wegs, auf dem diese erreicht werden, durch den Lehrer. In höherem Maß als jede autoritative „Methode“ ist diese Handhabung geeignet, beide, Schüler und Lehrer, zu Verantwortungsbewußtsein zu erziehen.
Eine weitere erzieherische Leistung bedeutet der von Schönberg in Wien gegründete und mehrere Jahre geleitete „Verein für musikalische Privataufführungen“. In diesem entstand zum erstenmal eine Institution, die ausdrücklich und allein dem zeitgenössischen Musikschaffen gewidmet war. Durch weitherzige Auswahl der Werke, sorgfältige Vorbereitung, mehrfache Wiederholung, und Ausschaltung jeden unkünstlerischen Interesses wurde für Publikum und Künstler eine Möglichkeit inniger Berührung und Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Musikproduktion geschaffen. Seither ist der Gedanke vielfach aufgegriffen worden, während der Wiener Verein leider eingegangen ist.
In der Kompositionstätigkeit Schönbergs lassen sich im einzelnen deutlich vier Perioden unterscheiden. Die erste umfaßt die Zeit einer noch verhältnismäßig starken Abhängigkeit von Vorbildern. Sie liegt etwa um die Jahrhundertwende. Schönberg stand dort, wie alle jungen Komponisten dieser Zeit, unter dem Einfluß und Eindruck der Symphonik von Strauß und Mahler. Die Klavierlieder Op. I, 2 und 3, das Streichsextett „Verklärte Nacht“ Op. 4, die symphonische Dichtung „Pelleas und Melisande“ Op. 5 und das oratorienartige Werk „Gurre-Lieder“ bezeichnen bei Schönberg diese Einwirkung: Programmusik mit häufigen illustrativen Zügen, großen symphonischen Steigerungen, gewaltigem klanglichem Aufwand und glanzvoller Instrumentation im Nach-Wagnerischen Stil. Die Klavierlieder Op. 6 und die Orchesterlieder Op. 8 leiten über zur nächsten Gruppe. Die Akkordbrechungs- und Begleitfiguren, die schon vorher häufig auffallende Formen angenommen hatten, beginnen sich hier in selbständiger motivischer Gliederung zu entwickeln.
Durch die vollständige Auflösung aller Liegestimmen in selbständige Bewegung ist die zweite Periode charakterisiert. Sie umfaßt das Streichquartett Op. 7, die Kammersymphonie Op. 9, das Streichquartett mit Gesang Op. 10 und den a cappella-Chor „Friede auf Erden“ Op. 13. Nur mit dem Übergang zur Kammermusik, zum Ensemble von wenigen Instrumenten war diese Entwicklungsrichtung verfolgbar; es ging daraus hervor die Auflösung alles Klanglichen in Linien, die noch heute die Technik beherrscht, und zugleich eine allmähliche Auflösung des funktionellen Tonartzusammenhangs. Das Vermeiden von Parallelführungen der Stimmen, sowie aller (ebenfalls nicht melodisch motivierten) Klangbrechungen hat allmählich dazu geführt. Mit dem Schlußsatz des zweiten Streichquartetts Op. 10 erreicht Schönberg eine Harmoniebehandlung, die an der äußersten Grenze der Tonart steht, alle üblichen Gebilde der Kadenzharmonik vermeidend und doch immer noch eine leise, zentrale Rückbeziehung zur Tonart beibehaltend.
In diesem Stadium des Spiels an der Grenze der Tonart stehen die Werke der dritten Periode, die Klavierstücke Op. 11 und 19, die Balladen und Lieder mit Klavier Op. 12 und 14, die George-Lieder (mit Klavier) Op. 15 und die „Fünf Orchesterstücke“ Op. 16. In ihnen ergreift der Auflösungsprozeß über die Harmonik hinaus alle formalen Elemente. Immer mehr isoliert und individualisiert sich die Einzelheit und verselbständigt sich gegenüber den zusammenfassenden formalen Kräften. Letzte impressive und expressive Impulse gestalten das Kunstwerk in freiestem Aufbau. Arnold Schönberg
Hierher gehören auch die beiden Bühnenwerke Schönbergs, das Monodrama „Erwartung“ Op. 17 und das Drama mit Musik „Die glückliche Hand“ Op. 18.
Die neuesten Werke Schönbergs, von denen der „Pierrot Lunaire“ Op. 21 (Sprechgesänge mit Kammerorchester) und die „Serenade“ Op. 24 die wichtigsten sind, behalten diese Technik im allgemeinen bei. Sie zeigen aber darüber hinaus einen neuen Wesenszug: ein Hinneigen zu neuer formaler Bindung. Gegenüber dem Krebskanon im „Pierrot Lunaire“, der dort noch vereinzelt steht, weist die „Serenade“ einen großen Reichtum an komplizierten thematischen Beziehungen auf. Sie liegen latent zugrunde, treten nicht an die Oberfläche hervor, an der vielmehr wie vorher die differenzierte Einzelwirkung herrscht. Aber sie sind vorhanden, und bezeichnen damit noch einmal einen neuen Abschnitt im Schönbergschen Schaffen, der zu noch unübersehbaren Konsequenzen führen kann.
Persönlichkeit und Werk Schönbergs waren und sind von tiefgreifendem, ja bestimmendem Einfluß in unserer musikalischen Gegenwart. Mit dieser Feststellung wollen wir uns begnügen. Die volle Auswirkung seines Daseins und seines Schaffens und damit seine endgültige Beurteilung mag ruhig der Zukunft überlassen bleiben.
Hermann Erpf, Neue Musik-Zeitung, 46. Jg., Oktober 1924, Heft 1
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