Mit den Opern-Ausgrabungen ist es so eine Sache. Der Ehrgeiz der Intendanten, das schmale Kernrepertoire zu erweitern, um damit auch überregionale Aufmerksamkeit zu erregen, ist durchaus kein ehrenrühriges Motiv. Manchmal kommt aber noch ein besonders ehrenvolles hinzu. Das betrifft jene Musiker, deren Werke von den Nazis als Ausfluss ihres Rassenwahns nicht nur von der Bühne verbannt, sondern die oft selbst ermordet wurden.
Für die Eröffnungsproduktion der neuen Spielzeit mit der „Verlobung im Traum“ von Hans Krása trifft beides zu. Die Uraufführung dieses quicklebendigen, heiter besinnlichen Werkes, das Ende der Zwanziger Jahre vollendet war, wurde in Deutschland schon vor 1933 nichts mehr. Obwohl Pult-Koryphäen wie Erich Kleiber oder Fritz Busch Interesse bekundet hatten. Erst in Prag und sozusagen auf den letzten Drücker gelang es, das Stück mit Erfolg herauszubringen. Eine Weile verteidigten die Tschechen tapfer ihre demokratische Eigenständigkeit ja noch gegen den übermächtigen Nachbarn.
So verdienstvoll die jetzige Neuinszenierung, die am 70. Jahrestag der Wiederkehr von Krásas Ermordung in den Gaskammern von Auschwitz Premiere hatte, an sich schon ist, so unverständlich bleibt es, dass das erst die zweite Produktion (nach einem gemeinsam von Mannheim und Prag unternommenen Wiederbelebungsversuch von 1994) nach der Uraufführung ist. Im Falle von Hans Krása hat sich jedenfalls weder der in seinem ästhetischen Modernedogma verbissene Westen noch der mit ideologischen Scheuklappen ausgerüstete Osten Deutschlands durch Rehabilitierungseifer ausgezeichnet. Wie schön, dass jetzt, gleich nach Karlsruhe, auch das Opernhaus der Partnerstadt Halle an der Saale mit der Kinderoper „Brundibár“ auch das zweite und letzte Bühnenwerk des 1899 in Prag als Sohn assimilierter Juden geborenen Zemlinsky-Schülers herausbringt.
Dass bei solchen überfälligen Unternehmen zum noblen Anliegen auch das pure Vergnügen kommen kann, war jetzt im Badischen Staatstheater zu erleben. Das Haus hat übrigens, gewissermaßen als ästhetisch politisches Pendant, mit der Wiederaufnahme des Rosenkavaliers der Quasinovität des Nazi-Opfers das populäre Prunkstück des, nun ja, Reichsmusikkammerpräsidenten gegenüberstellt. Wobei gerade der Rosenkavalier auch in der apart turbulenten Traumnovelle der besonderen Art, die Krása aus der netten kleinen Dostojewski-Novelle Onkelchens Traum gezaubert hat, durchscheint. Das Musikleben in den Zwanzigern war eben sehr lebendig, vielfältig, international und experimentierfreudig. Und der wohl ohnehin sehr kontaktfreudige und lebenslustige Krása hatte auch beim Komponieren keine Probleme, sich mit Anklängen überall da zu bedienen, wo er es für sinnvoll hielt. Und so geht es eben nicht nur wie bei Strauss mit dem großen spätromantischen ariosen Ton zur Sache, da hört sich manches wie Weill oder wie Strawinsky an. Und im Falle von Normas Arie „Casta Diva“ wird Bellini samt Quellen-Angabe im Text gleich ganz direkt zitiert.
Mit diesem Wunschkonzerthit kriegt die schöne, aber zum Leidwesen ihrer ehrgeizigen Mutter (wunderbar aufgedreht: Dana Beth Miller) noch unverheiratete Tochter Sina (arienzart: Agnieszka Tomaszewska) den alten, schon etwas vertrottelten Fürsten (komödiantisch: Jaco Venter) dazu, ihr im Überschwang der Emotionen einen Heiratsantrag zu machen. Der war wegen einer Panne in dem russischen Provinznest hängen geblieben und dieser schrecklich netten Familie in die Hände gefallen. Aber die Mama hat die Rechnung ohne die Neider gemacht, von denen der Fürstenneffe und selbst auf Sina scharfe Paul (Christian Voigt) den entscheidenden Einfall hat. Er animiert den Onkel dazu, von seinen vielen sehr lebendigen Träumen zu erzählen und redet ihm dann ein, dass auch sein Heiratsantrag an die nahezu Unbekannte unter der Rubrik Traum zu verbuchen ist. Da auch noch die intrigante Nastassja (Katharine Tier) ungefragt sämtliche Klatschbasen des Dorfes einlädt, ist der große Tumult vorprogrammiert, der dann auch prompt ausbricht, als Sina die zweifelhafte Intrige ihrer Mutter eingesteht und sich zu ihrer Liebe zu Fedja bekennt, der seinerseits Revolutionär und sterbenskrank ist. Dass der am Ende sogar stirbt und die arme Sina von der Mama in den fernen Osten an die Seite eines alten Gouverneurs verkuppelt wird, ist zwar traurig, schadet aber dem heiteren Grundton nicht. Zumal eh alles von einem Archivar „nur“ erzählt wird.
Und das pralle Menschen- und Intrigenleben, das man im Graben, wo Justin Brown mit der Badischen Staatskapelle für die rechte musikalische Stimmung zur szenischen Groteske sorgt, sozusagen immer vom Graben auf die Bühne tobt. Zumal Ingo Kerkhof (Regie), Dirk Becker (Bühne) und Inge Medert (Kostüme) dieses Kammerspiel ins Varieté-Milieu der Entstehungszeit verlegen. Mit Nummerngirls. Die verweisen erst mit den Schildern „Schuld“ und „Sühne“ auf den Autor der Vorlage, dann mit „Glaube“ … „Liebe“ … „Hoffnung“ auf die Schattenseiten der Roaring Twenties und schließlich mit „Wahn“ … „Sinn“ … „Los!“ auf die Selbstironie, zu dem das Genre bei Krása fähig war. Auf charmante Weise parodiert hier die Oper sogar die Operette. So wird diese Wiederentdeckung zu einer verdienstvollen und unterhaltsamen, runden Sache. Die obendrein ins Programm-Portfolio jedes guten Stadttheaters passen würde.