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V.l.n.r.: Rainer Michalke, künstlerischer Leiter des Netzwerk-Projektes nimm! (Netzwerk Improvisierte Musik Moers) und die Improviser in Residence Simon Rummel und Angelika Niescier. Foto: Stefan Pieper
V.l.n.r.: Rainer Michalke, künstlerischer Leiter des Netzwerk-Projektes nimm! (Netzwerk Improvisierte Musik Moers) und die Improviser in Residence Simon Rummel und Angelika Niescier. Foto: Stefan Pieper
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Wachablösung in Moers – „Improvisers in Residence“ lösen einander ab

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Stadtmusikant klingt so charmant altmodisch, fast schon mittelalterlich. In Moers wohnt der „Improviser in Residence“ mitten im Herzen der Kleinstadt am Niederrhein, wo seit einem Jahr auch dann etwas geht in Sachen improvisierter Musik, wenn das große Pfingstfestival zeitlich weit weg ist und dessen Schauplatz, der idyllische Schlosspark, sogar zuweilen unter einer dicken Schneedecke schlummert – das ist selten hier am Niederrhein! Ein kleines Haus direkt neben einer großen Kirche. Ein Flügel dominiert das karge Interieur, auf Sofas liegen Saxophone, und im CD-Regal fallen vor allem die zahlreichen Coltrane-CDs auf. Hier ließ Angelika Niescier ein Jahr lang ihre Energien fließen.

Vielerorts residieren zurzeit Artists, Composer und eben auch Improviser, um ihre Kunst auch längerfristig ihrem Publikum nahezubringen. Ist hier eine Gegenströmung zur immer inflationäreren Häppchen-Kultur, die meist auf Verkürzung setzt, auszumachen? Für ein ganzes Jahr agierte Angelika Niescier als „Improviser in Residence“ im Rahmen des aktuell auf vier Jahre konzipierten „Netzwerk Improvisierte Musik in Moers“. Diese Initiative ist Bestandteil des Netzwerks Neue Musik der Bundeskunststiftung, bei der auch die Kulturstiftung NRW als Förderer mit im Boot ist. Die Neue Musik ist eine der dynamischsten Ausprägungen von lebendiger Kulturpraxis. Nur: In der öffentlichen Wahrnehmung rangiert so etwas als außerordentliche Nischenangelegenheit. Diesen Diskrepanzen soll durch Netzwerke wie diese entgegengewirkt werden. 
Angelika Niescier ist in Moers wahrgenommen worden – davon zeugt allein schon die rege Resonanz beim Pressegespräch an diesem Morgen.

Regelmäßig kamen junge Bands zu ihr ins Haus, denn deren „Coaching“ gehörte während des zurückliegenden Jahres zu ihrem Aufgabenbereich – mit respektabler Nachfrage, wie die in Köln ansässige Musikerin bekundet. Sie spielte auf Gesprächskonzerten, begab sich auf Entdeckungsreise zu neuen Aufführungsorten. Eine „Jazz-Rallye“ verlieh dem expressiven Saxophonspiel der Kölnerin ungeahnte Präsenz im öffentlichen Raum – in einer Buchhandlung, sogar im Schuhladen. Beim Moerser Jazzfestival 2008 vereinte sie in einer aufwändig arrangierten kompositorischen Vertonung der Lyrik von Hanns Dieter Hüschs viel musikalischen Wagemut mit einem starken regionalen Themenbezug.

Jetzt ist ihre Residency vorüber. Schon ist der „Nachmieter“ zugegen im kleinen Haus bei der Kirche. Künftig leitet der junge Kölner Komponist, Pianist, Choreograf und Schauspieler Simon Rummel die künstlerischen Geschicke. Der Kontrast zwischen diesen beiden Persönlichkeiten könnte nicht bemerkenswerter ausfallen – die emanzipierte, kreative Jazzerin übergibt die Aufgabe einem hochintellektuellen, vielleicht gar etwas esoterischen Konzeptkünstler – darauf deuten zumindest Simon Rummels erste Andeutungen im Gespräch hin. Der 30-Jährige überlegt lange, bevor er Sätze formuliert, die durchaus Visionäres offenbaren. Befreien will er den Begriff der Improvisation aus allen Konnotationen, auch aus denen eines zu eng ausgelegten Jazzbegriffes. Schließlich improvisiert ja jeder Mensch ständig und überall in seinem Leben. Background hat er mehr als genug: Er studierte unter anderem bei John Taylor, leitete Tanz- und Theaterprojekte, ist Gründer des Ensembles „Fantasmofonika“.

Er möchte mit den Menschen dieser Stadt ins Gespräch kommen und auch Kinder begeistern, würde gerne auch die Orgeln in den Kirchen nutzen, und es gibt bei ihm zwischen Musik und Bildender Kunst wohl kaum noch Grenzen. Vielleicht werden neue Spielstätten konstruiert oder neuartige Klangerzeuger geschaffen. „Und wenn wir die Dinge alle nicht mehr brauchen, können wir ja ein schönes Feuerchen damit machen zum Schluss.“ Humor hat er auch, dieser feinsinnige Querdenker.

Schon eine Woche später ist die weiße Schneepracht wieder aus dem Moerser Schlosspark verschwunden – aber im großen Saal des benachbarten Rathauses sorgen die Stadtmusikanten dafür, dass es nicht still wird an diesem Ort. Die eine gibt ihren musikalischen Ausstand, der andere eine kurze Kostprobe seiner eigenen künstlerischen Handschrift.

Angelika Niescier hat an diesem Abend eine internationale Band auf der Bühne, um eben das auszuleben, was sie als ihren persönlichen „Coltrane“-Virus bezeichnet. Das legt hochenergetisch offen, wie stark die zeitgenössische Jazz-Praxis mit der Ästhetik der Neuen Musik verwoben ist. Von metrisch treibenden Passagen und solistischer Expression geht es fließend in subtile Klangforschungsprozesse hinein – auf Saxophon und Trompete, Cello, Bass und mit zum Teil extremen Tonmalereien des Schlagzeugs. Schließlich schwenkt sie mit den mitreißenden Themen aus ihrer Hanns-Dieter-Hüsch-Komposition in die Zielgerade ein. Dann tritt Simon Rummel in Aktion. Mit der Theatralik eines tiefernsten Zeremonienmeisters verteilt er kleine Glockenspiele, die immer nur einen einzigen Ton erzeugen können, im Publikum. Jetzt dürfen sich die Zuhörer einmischen – zunächst verstohlen, dann deutlich selbstbewusster und durch Rummels Gesten animiert entsteht ein glitzernder, funkelnder, ganz und gar zufälliger Klangteppich. Das hätte auch John Cage überzeugt. 

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