„Mors certa hora incerta" also „Der Tod ist gewiss, die Stunde nicht“ – so ist an der Rampe in der Dresdner Semperoper zu lesen. Ein passendes Motto für „Lucia di Lammermoor“. Obwohl sich die Todfeinde im Stück, hier schon mal ziemlich konkret die Stunde ankündigen, an der sie zuschlagen wollen. Musikalisch und mit seinem Plot ist das, was Gaetano Donizetti 1835 rausgehauen hat, ein Belcanto-Kracher mit allem Drum und Dran. Mit einer Wahnsinnsarie für die Titelheldin als Schmankerl. Und das im doppelten Wortsinn – es geht um den Inhalt und um die Herausforderung für die Sängerin. Mit der die ganze Oper steht oder fällt. In Dresden steht sie. Und wie!
Mit der jungen Russin Venera Gimadieva bejubelten die Dresdner ganz zur Recht einen aufgehenden Stern am Opernhimmel! So traumwandlerisch sicher in die Koloraturen der Endlosarie zu entschweben, gelingt auf der Bühne nicht oft. Diesmal sogar mit der in der Originalversion vorgesehenen Glasharmonika zu den gefühlvollen Spitzen-Koloraturen.
Richtig große Oper also. Mit Familienfeindschaften bis auf den Tod. Mit Lucias Liebe zu Edgardo über diesen tiefen Graben hinweg. Vor allem aber mit einer verhängnisvollen Intrige, die Lucias Bruder Enrico einen (reichen) Verbündeten einbringen soll. Ein typischer patriarchischer Fall von verkaufter Schwester. Die rebelliert vergeblich, flieht dann aber nicht nur „einfach“ in den Wahnsinn, sondern bringt in der Hochzeitsnacht ihren verordneten Ehemann brutal um. Lucia überlebt das nicht lange. An ihrem Sarg bringt sich dann auch noch ihr Edgardo um. Auf dem Weg dahin gibt es jede Menge Steilvorlagen für musikalisches Gruseln und Schmachten. Aber auch etliche Beispiele, in denen die Musik geschmeidig und geradezu süffig unterhaltend vorangeht, während eigentlich von Mord- und Totschlag, Intrige und Liebe die Rede ist.
In Dresden verweigert Dietrich Hilsdorf jedes schottisch gestylte, atmosphärische Ambiente. Kein Mond scheint hier überm schottischen Hochland (wie kürzlich in der Inszenierung von Katharina Thalbach in Leipzig). Kein Schottenkaro. Nirgends. Gesine Völlm hat dem gesamten Personal zugeknöpftes bürgerliches Schwarz verpasst.
Für Donizettis Schmachtfetzen, für dessen Libretto Salvatore Cammarano immerhin eine Romanvorlage von Walter Scott verarbeitete, hat ihm Johannes Leiacker stattdessen einen simplen, gleichwohl starken bürgerlichen, fensterlosen Salon in Schwarz gebaut. Er wird nach und nach zu bühnenfüllender Größe aufgeklappt und bietet den düsteren Einheitsraum, der nur mit einer Tafel, etlichen Stühlen und einem Bett bestückt ist. Der Raum ist ringsherum mit einem Fries aus Neonröhren versehen. Deren Flackern steigert optisch das musikalisch aufziehende Unwetter.
Das ist der Rahmen für die großen, subtil choreografierten Tableaus des exzellenten Opernchors. Und für die Begegnungen zwischen den Akteuren. Die eigentliche Spannung und Atmosphäre aber resultiert vor allem aus der Musik und der fabelhaften Personenführung, mit der Hilsdorf das Ambiente für ein Fest der Stimmen schafft.
Stimmenfest
Hier ist die Semperoper ganz auf der Höhe. Kein Wunder, wenn an der Seite von Lucia Georg Zeppenfeld als ihr Bruder Raimondo (zu dem avanciert der sonst vorgesehene Kaplan diesmal), die Aufgabe übernimmt, die Bluttat Lucias zu schildern. Er krönt mit dieser Chronistenpflicht ein weiteres Beispiel seiner überragenden Rollenporträts.
Dem finsteren Bruder-Bösewicht Enrico verleiht Aleksey Isaev vehement, die nötige vokale Finsternis. In der Tenorfraktion gelingt es Edgaras Montvidas mit schmachtendem Tonfall seine sympathische Ausstrahlung als Edgardo zu untermauern. Den Lucia aufgezwungenen Bräutigam stattet Simeon Esper (äußerlich an Theo Adam erinnernd) mit einschmeichelndem vokalem Schmelz aus. Dazu kommen noch Tom Martinsen als Intrigant Normanno und Susanne Gasch als Lucias Vertraute Alisa – hier auch als Geist der toten Mutter.
Am Pult des in Dresden verbliebenen Teils der auf China-Tournee befindlichen Sächsischen Staatskapelle legte sich Gastdirigent Giampaolo Bisanti mit Vehemenz für Donizetti ins Zeug. Die Dresdner können halt mehr, als nur ihren Wagner oder Strauss. Nach über 80 Jahren Abstinenz hat die Semperoper wieder eine „Lucia di Lammermoor“ im Programm, die sich nicht nur hören und sehen lassen kann, sondern für Belcanto-Liebhaber ein Muss ist.