Frieder Reininghaus hat in Paris eine fein ausgesponnene Inszenierung von Reimanns „Lear“ gesehen. Calixto Bieitos inszenatorisches Handwerk sei feinfühliger geworden und mache das genaue Zuschauen doppelt lohnend, meint unser Rezensent.
„King Lear“ – das ist jener Shakespeare-Stoff, bei dem der ansonsten beim Zugriff auf heftige Dramen wenig zimperliche Giuseppe Verdi in den 1890er Jahren das Handtuch warf und dann das Zeitliche segnete. Andere kamen mit Partituren, die William Shakespeares blutiges Königsdrama mit Musik versahen, zu vorzeigbaren Resultaten – heute gründlich vergessene Komponisten wie Steffano Gobatti (bereits 1881 in Bologna), Giulio Cottrau (Padua 1913), Alberto Ghislanzoni (Rom 1937) oder Vito Frazzi (Florenz 1939). Keinem von ihnen jedoch war so großer und nachhaltiger Erfolg beschieden wie Aribert Reimann. Dessen „Lear“ wurde 1978 von der Bayerischen Staatsoper München mit Starbesetzung aus der Taufe gehoben und gelangte bereits 1982 ins Palais Garnier – und nun, 35 Jahre später, erneut in das imperiale Opernhaus der französischen Hauptstadt.
Der wiederum anwesende, inzwischen 80jährige Komponist wurde am Ende der Premiere hervorgerufen. Er umarmte den Dirigenten Fabio Luisi nach vollbrachter Großanstrengung auf der Bühne ebenso herzlich wie den diesmal fast beiläufig den Grausamkeiten Rechnung tragenden Regisseur Calixto Bieito und den so intensiv wie exzessiv präsenten Hauptakteur Bo Skovhus, der mit manchmal leise, mal lauter bebender Stimme die zum Heucheln nicht fähige jüngste Tochter Cordelia verstößt, schon bald die Arglist der beiden anderen Erbinnen bemerkt und sein Los als gedemütigter und verstoßener Greis klagt.
Schwer zu entscheiden, ob die reichliche Portion Selbstmitleid, die in der Stimme von Skovhus mitschwingt, ein in voller Absicht eingesetztes Stilmittel ist oder eine eher unfreiwillige Dreingabe. Die Bandbreite der von ihm in Anschlag gebrachten Intonationen reicht jedenfalls vom (sinnlosen) Wüten übers trockene Erschrecken und gellenden Galgenhumor angesichts des Wahnwitzes seiner Familiengeschichte bis zur einsamen Klage. Die wird getragen von den schließlich immer feiner ziselierten Reibungen des Orchesters.
Die Geschichte eines ohne männlichen Nachkommen gealterten englischen Gewaltherrschers des 12. Jahrhunderts, der versäumt, rechtzeitig und mit der nötigen Umsicht seine Nachfolge zu regeln, ist von Shakespeare in eine dramatische Form gebracht worden, die weit über die Königsebene hinausweist. Die Unterlassungssünden und der Mangel an kritischer Einschätzung der Erben führt zu Lears Vertreibung vom freiwillig angetretenen Altenteil – und noch zu seinen Lebzeiten zu den grausamsten und bis zur bitteren Neige exekutierten blutigen Auseinandersetzungen unter seinen drei Töchtern und deren Partnern sowie im engen Umkreis seiner Vertrauten.
Das fordert expressionistisch gedachte und ausgeführte Musik nachgrade heraus: Die von Aribert Reimann aufgebotenen Stilmittel sind im Lear-Kontext unmittelbar plausibel. Und gerade auch deswegen geht diese Oper so besonders zu Herzen – wobei Luisi die harten Kanten und Schärfen der Partitur nicht überakzentuiert, sondern gerade auch die Momente der Leichtigkeit und (als wäre nicht nur der Text, sondern auch die Musik zu Ironie befähigt), die schwebenden Wahrheitsmomente der Einlagen des Narren herauspräpariert.
Geteerte grobe Bretter verschließen statt des für gewöhnlich gezeigten roten Vorhangs die Bühne. Vor sie treten die auf den Antritt des Erbes wartenden Familienmitglieder und wichtigsten Stützen des Reichs – zu ahnen ist, dass durch die Spalten zwischen den Bohlen, die später wegkippen und ein denaturiertes Niemandsland skizzieren, Wind und Wetter pfeifen können. Lear, der gut gelaunt von der Macht Abschied nehmen, aber von den Seinen geliebt werden will, teilt sinnbildlich einen Brotlaib auf und beobachtet, wie die Töchter Goneril und Regan vor ihm kriechen und gierig zuschnappen und in Triumphgelächter ausbrechen. Ricarda Merbeth, die zunehmend ordinäre Bosheit aus den Augen und der Kehle blitzen lässt, treibt die Darstellung der gefühlsarmen gradlinig machtgeilen Thronerbin bis an die Grenze der Parodie und greift gerne zu Gürtel oder Krawatte als Marterinstrumenten. Bei Erika Sunnegårdh kommt noch sexuelle Obsession dazu. Die freilich wird nicht so überpointiert wie dergleichen in manch früherer Inszenierung von Calixto Bieito. Gerade diese Drosselung aber bei der Darstellung der Gewaltexzesse bei der Blendung Glosters zu Beginn des zweiten Teils oder beim großen Gemetzel im Lager bei Dover lassen die bizarren Tugenden des Tonsatzes hervortreten und mit ihnen die Banalität des Bösen, um die der Text kreist – die auf beiden Ebenen geniale Charakterisierung des Abscheulichen, Teuflischen, Verwerflichen. Auch die nicht-realistischen erratischen Video-Einblendungen von Sarah Derendinger auf der Wand in der Tiefe des Raums hinter den nun weggekippten und schräg gekreuzten schwarzen Brettern unterstreichen, dass hier kein moralisch gutgemeinter Frontalunterricht stattfindet.
Bieitos inszenatorisches Handwerk ist feinfühliger geworden und macht das genaue Zuschauen doppelt lohnend. Der am Ende zweimal wiederkehrenden Klage der den Vater liebenden, zu Unrecht aus dessen Nähe verbannten Cordelia verleiht Annette Dasch szenisch wie stimmlich Glanz, Anmut und Melancholie. Die kurzen prägnanten Episoden klingen wie aus einer höheren besseren Welt in die graue Niedrigkeit der Lear-Familie hinüber. Zu den nachhaltigen Eindrücken des Premierenabends gehört neben den „dankbaren“ Auftritten von Ernst Alisch als Narr insbesondere auch das massive Stimmaufgebot von Andreas Conrad, der dem als „Bastard“ stigmatisierten Edmund besonderes Gewicht in der Intrige verleiht. Ja, hier agiert und singt sichtbar und hörbar jeder für sich allein, auf eigene Rechnung und ohne sentimentale Rücksichten.
Das – die Familien-Anamnese einer feinen Familie – hat Calixto Bieito fein herausgearbeitet, ohne dass Lear in die Gerontologie eingewiesen wird. Worüber man angesichts der wohlfeil gewordenen stereotypen Muster des Regisseurstheaters froh und dankbar sein mag.