Diese Namen findet man sonst nur an den großen Häusern der Welt: Martha Argerich, Isabel Karajan, Gidon Kremer, Mischa Maisky … – sie und viele andere kommen in kleine Dorfkirchen und Industriedenkmäler, in die Theater von Cottbus bis Zittau zum Lausitz-Festival.
Weltklasse in der Provinz. Wie das geht, zeigen Musikfestspiele etwa in Mecklenburg-Vorpommern und in Schleswig-Holstein. Warum nun nicht auch ein Kunstfest in der Lausitz? Seit Ende September und noch bis Mitte Oktober flutet dort ein neues Festival mit hochkarätigen Namen und avancierten Programmen die allzuoft mit dem Attribut „strukturschwach“ versehene Region.
Intendant Daniel Kühnel ist optimistisch. Das Publikum hält sich bedeckt. Eine Stippvisite im Kraftwerk Plessa. Viele werden den Namen nie gehört haben. Dabei steht hier eines der ältesten europäischen Kohlekraftwerke, das bis 1992 in Betrieb war. Inzwischen zum Besucherkraftwerk mutiert, bietet es nach wie vor eine imposante Kulisse mit seinen gewaltigen Schloten und Hallen.
Nahezu alles würde man hier erwarten, nur nicht Beethoven, Theater und verstörende Kunst. Was für ein Irrtum.
Mit der Uraufführung „Taubenliebe“ wurde dieses Industriedenkmal eigens zum Lausitz-Festival in eine Riege mit den begehrtesten Konzertpodien Europas gesetzt. Hätte man hier einen Pianisten wie Daniel Ciubanu erwartet? Oder Schauspielerinnen wie Henriette Thimig und Isabel Karajan? Mit Sicherheit nicht.
Die drei haben Ludwig van Beethovens 33 Variationen über ein Thema von Diabelli mit 33 Minidramen von Antonio Fian gespickt und das Ganze in der Regie von Klaus Ortner zu einem faszinierenden Kraft-Werk aufblühen lassen. Immer ein Stück Musik und ein Dramolett. Wobei mal die Musik, mal das Gesprochene als Stichwortgeber fungiert und den jeweils nächstfolgenden Einsatz verlangt.
Die vom angeblich schon völlig ertaubten Beethoven geschaffenen Variationen zu Diabellis Walzer-Thema zeugen von der meisterlichen Wucht des Giganten, der sie so furios wie virtuos aus- und umgedeutet hat, dass es schon einen Meister braucht, sie an den Tasten adäquat auszuführen. Ciubanu dringt mit hartem Anschlag und spielerischer Leichtigkeit, mit interpretatorischer Raffinesse und technischer Perfektion durch diese Ohrwurm-Folge, lässt aber auch den erst im vergangenen Jahr entstandenen Miniaturen von Antonio Fian ordentlich Raum.
Verdichtetes Welttheater
Und den füllt das grandiose Duo Thimig / Karajan großartig aus – auch wenn der ihnen zur Verfügung stehende Spielraum sehr beengt ist. Dem schwarzen Flügel des Pianisten steht nämlich ein ebensolches Pendant für die Actricen zur Seite, ein ausgehöhlter allerdings, in dem sie wie gefangen sind. Aneinander gefesselt durch Worte, Gewohnheiten, durch Mutter- und Tochterliebe, mehr noch: durch „Taubenliebe“, die das liebe Federvieh ebenso wie die Liebe zu einem Tauben meinen kann.
Der nämlich übt und spielt in der Nachbarwohnung, für Tochter Irma (Isabel Karajan) ist das ein Wohlgefallen, für deren Mutter (Henriette Thimig) ein Graus. Und schon liegen sich die zwei in den Haaren, von denen beide mehr als genug auf den Zähnen haben. Das Granteln der Mutter, die Abhängigkeiten der Tochter, wechselseitige Befreiungs- und Abstoßungsversuche – beinahe jedes dieser kleinen Dramen ist verdichtetes Welttheater, ist ein Lebensausschnitt, bringt das Dasein in der Familien-Bande auf den Punkt.
Wie die Musik bei Beethoven um immer denselben Kerngedanken kreist, ihn aber vielfarbig ausführt, so ist in diesen Stückchen von Fian die Hassliebe allgegenwärtig, aus der Mutter und Tochter kaum zu entfliehen vermögen. Klaus Ortner lässt sein Schauspielerinnenduo denn auch folgerichtig in der Schlussszene wieder unterm großen schwarzen Deckel des Flügels verschwinden.
Sensation und Metamorphose
Verstörend, dieses Aufeinandertreffen von verschwisterten Künsten in einer kargen, nichtsdestoweniger imposanten Maschinenhalle. Verstörend allerdings auch die österreichische Mundart am brandenburgischen Südrand – was freilich nicht als Eindringen, sondern weit mehr als ein Öffnen verstanden werden kann. Wie auch in Dutzenden weiterer Veranstaltungen Kunst und Kultur von Weltrang länderübergreifend den Wandel der Lausitz reflektieren soll.
Dass hier nun Namen wie Martha Argerich, Elina Garanca und Christiane Karg, Charles Dutoit, Gidon Kremer, Mischa Maisky sowie Brad Mehldau, Rolando Villazón und nicht zuletzt das Avishai Cohen Trio zu erleben sein werden, gleicht einer kleinen Sensation – und ist doch überraschende Realität in kleinen Dorfkirchen, Industriedenkmälern stillgelegter Fabriken und Kraftwerke, einer ehemaligen Haftanstalt, in der Orangerie von Park Muskau sowie in den Theatern von Cottbus und Görlitz, von Senftenberg und Zittau.
Festivalintendant Daniel Kühnel hat sich absichtsvoll auf ein Mehrspartenfestival mit den Säulen Bildende Kunst, Theater, klassische Musik und Jazz eingelassen, zudem soll eine Sparte „Festival im Festival“ ein schon bestehendes Festival im Rahmen des Lausitz-Festivals präsentieren, wird es eine philosophische Gesprächsreihe und eine Vortragsreihe über Landschaften geben.
Selbstredend hat das mit dem Strukturwandel der Landschaften sowohl in der sächsischen Oberlausitz als auch in der brandenburgischen Niederlausitz zu tun, Stichwort Kohleausstieg. Kühnel will das von den beiden benachbarten Bundesländern sowie vom Bund finanzierte Lausitz-Festival aber nicht nur unter wirtschaftlichem Aspekt sehen, sondern auch die lokale Kulturlandschaft der Welt zeigen. Bei dieser Verflechtung ist dem Macher das Wort Metamorphose offenkundig lieber als der überstrapazierte Begriff vom Strukturwandel. Dass es auch ein politisches Zeichen ist, also ein Zukunftsthema, spricht in diesen Tagen kaum jemand aus.