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Messiaen-Tage 2023.
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„Wandeln im Chaos“ – die 6. Internationale Messiaen-Tage in der Europastadt Görlitz Zgorzelec

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Der 15. Januar hat sich eingeschrieben in die Geschichte der Europastadt Görlitz Zgorzelec. Im Kriegswinter 1941 wurde an diesem Datum das „Quartett auf das Ende der Zeit“ von Olivier Messiaen uraufgeführt – in der Theaterbaracke des Gefangenenlagers Stalag VIII A! Seit nunmehr 15 Jahren wird wieder an dieses Ereignis erinnert, natürlich mit der regelmäßigen Aufführung des Quartetts. Zunächst in einem Konzertzelt, das in echten Schneewintern noch den Hauch eines Eindrucks vermitteln konnte, wie es wohl bei der Uraufführung zugegangen sein mochte, seit 2015 im eigens errichteten Europäischen Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur direkt am Rande des früheren Lagers.

Längst ist aus dieser grenzüberschreitenden Erinnerungsarbeit ein veritables Festival geworden, die diesmal unter das Thema „Wandeln im Chaos“ ausgerichteten Internationalen Messiaen-Tage Görlitz Zgorzelec. Über die jährliche Aufführung des Messiaen-Quartetts hinaus gehörten (nach zwei pandemiebedingt abgesagten Jahrgängen) auch diesmal wieder Chor-, Lied- und Orgelkonzerte dazu, gab es auf beiden Seiten der Neiße Veranstaltungen in Kirchen, im Kulturforum Görlitzer Synagoge sowie auf dem einstigen Lagergelände. Neben Stadtführungen beleuchteten Podiumsgespräche – etwa über Jakob Böhme als den großen Sohn dieser Stadt – Themen wie die Zwangsarbeit im einst noch ungeteilten Görlitz sowie Flucht und Vertreibung nach 1945 und nicht zuletzt auch die Problematik des Miteinander in einem geeinten Europa. Allerdings wurde diesmal weniger das unterschiedliche Demokratieverständnis in Polen und Deutschland debattiert, stattdessen war der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ein allgegenwärtiges Thema.

Besonders deutlich wurden die verbrecherische Idiotie und die absurde Unmenschlichkeit von Kriegen in der Ausstellung „Musik im okkupierten Polen 1939 – 1945“, die im Europäischen Zentrum in deutscher und polnischer Sprache präsentiert worden ist. Auf großen Schautafeln war da zu sehen, was der deutsche Überfall auf Polen (Resultat des Hitler-Stalin-Pakts von 1939) für bestialische Konsequenzen gehabt hat. Da wurden Orchester zerstört, Künstlerinnen und Künstler interniert und ermordet, Theater bombardiert, ganze Lebens- und Kulturräume unwiederbringlich vernichtet. Beim Anblick dieser höchst überzeugend kommentierten Dokumente denkt man unweigerlich an das, was heute in der Ukraine geschieht. Obwohl es so unglaublich ist.

Ein Konzert der Europa Chor Akademie hat die allgemeine Verzweiflung durch den Titel „Verleih uns Frieden“ mit einem Schimmer von Hoffnung erhellt. Ein anderes Licht setzte der französische Pianist Pierre-Laurent Aimard, dem ein ebenso virtuoses wie ergreifendes Klavierrezital gelang, in dem der Messiaen-Schüler, -Freund und -Experte dessen Werk mit Bach, John Cage, Morton Feldman und Franz Liszt verflochten hat. Wie sich Kompositionen aus solch unterschiedlichen Epochen doch gegenseitig beleuchten können!

Ähnliches gelang auch im Abschlusskonzert, in dem – traditionell am Uraufführungsdatum 15. Januar – natürlich Olivier Messiaens „Quartett auf das Ende der Zeit“ zum krönenden Schlusspunkt geriet. Ein Ritual übrigens, an dem man sich keineswegs satthören kann, denn was 1941 unter unsäglichen Bedingungen entstanden und uraufgeführt worden ist, steckt nach wie vor voller Entdeckungen und Eindrücke, ist jedes Mal anders und immer wieder neu zu erleben. Zumal immer wieder bedacht werden muss, dass diese nach Nazi-Verständnis als „entartet“ geltende Musik ihre Entstehung einem Kriegsgefangenenlager der deutschen Wehrmacht „verdankt“.

Wie modern und avantgardistisch das Quartett nach wie vor ist, haben zu den 6. Internationalen Messiaen-Tagen Mitglieder des Broken Frames Syndicate bewiesen. Dieses Ensemble sieht sich ansonsten nur wahrhaft Neuer Musik verpflichtet, also jüngstem Schaffen von heute. Mit dem „Quartett auf das Erwachen der Zeiten“, geschrieben von der französisch-niederländischen Komponistin Camille van Lunen, setzten Moritz Schnedewendt (Klarinette), Lola Rubio (Violine), Nathan Watts (Violoncello) sowie Vitaliy Kyianytsia (Klavier) eine Art Gegenpol zu Messians „Quartett auf das Ende der Zeit“, verbunden mit dem eindringlichen Appell, grundsätzlich alles Leben zu schützen.

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