Vom 19. bis 21. Februar veranstaltete die musica viva des Bayerischen Rundfunks ein kleines Festival mit drei Konzerten: Zuerst präsentierten sich Solisten des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks mit Kammermusik in der Allerheiligenhofkirche. Tags darauf zog man nur ein paar Meter um die Ecke weiter in den Herkulessaal, das Stammhaus der Konzertreihe. Als ob man einen Parcours zwischen den bisher ab- wie angezählten Alternativen für einen neuen Konzertsaal ablaufen sollte, fand man sich zuletzt am Fuße des Gasteigs, schräg gegenüber der Insel des Deutschen Museums in der Muffathalle wieder. Oder war diese erlebte Wanderschaft das unausgesprochene Motto dieses Wochenendes Ende Februar?
Fabulieren bayerische Spitzenpolitiker in Sachen ihrer Konzertsaalverfänglichkeiten zum Frühstück von „Weltniveau“, fabrizieren andere dieses nach dem Abendbrot: Die Musikfabrik Köln brachte zum Abschluss der drei Tage ihre „Wunderharfen“, Nachbauten der Harry-Partch-Spezialinstrumente, erstmals in München zum Erklingen. Mit „And on the Seventh Day Petals fell in Petaluma“ erlebte man exemplarisch noch nie gesehene Zithern, Schlaginstrumente und Orgeln von Duetten bis zum Septett, die in Partchs „Just-Intonation“ gestimmt sind, eine besondere Art der „Reinen Stimmung“. Manchmal vermisste man in rhythmisch unterkomplexen Momenten die grobkörnig-rauen Gesänge aus „Delusion of the Fury“, zu denen dieses Werk eine instrumentale Vorstudie ist. Aber die eigentlich nur mit der Magengrube wahrnehmbaren Bassfrequenzen der utopisch riesigen „Marimba Eroica“ oder das Flirren der „Blue Rainbow“-Zither machten das wieder wett.
War Partch in den dreißiger Jahren obdachlos, weshalb man ihn „Maverick“ nannte, ein Prärierind, so hieß man auch Frank Zappa einen Wanderer zwischen Rock und zeitgenössischer Musik. Er verursachte in diesem Konzert wippende Füße und übergroßen Jubel. Durchaus verständlich, wenn man die musikantische Spielfreude der Musikerinnen und Musiker der Musikfabrik in Betracht zieht, mit der sie ihr enormes virtuoses Potenzial voll ausfahren konnten. Allerdings wirkt dies ohne Zappa in Person wie erkalteter Kaffee: Was einmal Provokation aller Musikszenen war, in denen er sich bewegte, verkam nun zu Staubwedelattacke und kleinsinfonischem Jazz. So konnte man im Gesamtkontext dieses Konzertes erleben, wie ein zu Lebzeiten mit seinen genresprengenden Setzungen als Außenseiter gebrandmarkter Komponist zu einem Klassiker wurde. Eine zeitgemäße Auseinandersetzung wäre hier vielleicht mit den Mitteln des Reenactments zu erreichen, was immer ein Problem von Musik ist, die die Person ihrer Erschaffer in den Mittelpunkt stellte. So war die Zurschaustellung der Nachbauten von Partchs Instrumenten eindeutig das relevantere Unternehmen dieses Abends.
Applausunglück
Ein ähnliches, typisch münchnerisches Applausunglück war tags zuvor im Konzert des Sinfonieorchesters des Bayerischen Rundfunks unter der Leitung von Peter Eötvös zu erleben, der mit seiner Stiftung auch den Kompositionsauftrag „Lethe“ für Streicher von Máté Bella mit der musica-viva ko-kuratierte. Ohne Zweifel ist dieses Stück sauber instrumentiert, Tan-Dun-Chinoiserie, Boulez-Zwölfton-Pflicht und Ligeti-Flächen-Kür bis hin zur Lachenmann-Copy-Cat Eins a erfüllt. Letztlich aber schmeckte es nur wie ein mit Senf aufgehübschter Pausenkitzler vom Vortag. Nichts gegen seinen ungarischen Grand-Prix-d’Eurovision-Song. Aber diese exemplarische Neue-Musik-Neoklassik wird weder durch Bellas Jugendlichkeit entschuldigt noch durch das postmoderne Tanzen in verschiedensten Sparten, wenn man sich in keinem Bereich der Frage nach brauchbarem Gehalt stellt.
Rebecca Saunders’ „Alba“ für Trompete solo – hier mal wieder unübertroffen Marco Blaauw, der im Musikfabrikkonzert auch mit Georg Friedrich Haas’ Solo „I can’t breathe“ elegisch brillierte – und Orchester war dagegen gelungener in seiner Monochromie: Die changierenden Klänge des Soloinstruments, die Weltraum-Sheng der Streicher-Akkordeon-Mixturen, die permanent klirrenden Autofedern, die Tuttifokussierungen des Solisten und die Übergänge zwischen all diesen Zuständen erzeugten ein weißes Rauschen, als hätte man direkt in die gleißende Korona einer Sonnenfinsternis geblickt. Mit elektronischem Rauschen grundierte auch Vinko Globokar die intensiveren Bläserklänge seiner Kantate „Exil 3 – Das Leben des Emigranten Edvard“. Mit einem Klang, der erstaunlicherweise an den Klarinettenschrei zur Eröffnung von Brian Ferneyhoughs „Shadowtime“ erinnerte, startete die Wanderung des slowenischen Arbeiters Edvard, vom Komponisten selbst textiert, durch Peter Handke übersetzt und von Bruno Ganz vorgelesen, von karstigen Feldern in staubige Kohleminen und über dampfende Arbeiterkantinen zurück ins kostenlose titoistische Bildungssystem. Das wirkte überaus lebensfroh und kollidierte seltsam mit den expressiv vertonten Exil-Texten von Ovid bis Brecht. Gerade daraus zog das Stück aber auf irrationale Weise seine musikalische Abwechslung und spielte schillernd mit Vertreibung und Familienglück, egal in welcher Zwickmühle der Emigrant auch gerade stecken mochte.
Als bald nach einer freien Improvisation des Kontrabassklarinettisten Michael Riessler, der Schuhe ausziehenden Koloratursopranistin Piia Komsi, des Sprechers Ganz und des in einem Bretterverschlag versteckten Globokar der Chor des Bayerischen Rundfunks das alte „Za sirnim daljinim oceanom“ anstimmte, was jedem Sonnenuntergang einer alpenländischen Heimatsendung die letzte Prise Kitsch verabreicht hätte, zeigte sich Globokar als Meister genau kalkulierter Emotionen, machte er wahrhaft „Bella Figura“ zum Abschluss dieses Abends.
Warme Worte
Im März nur ein einziges Konzert mit dem BR-Sinfonieorchester im Herkulessaal zusammen mit dem bewährten musica-viva-Dirigenten Emilio Pomàrico. Dieser kündigte mit warmen Worten im Programmheft die Uraufführung der neuen „Etudes“ des Georges Aperghis an. Dieser hatte seine letzte geglückte Orchesterarbeit 1972 unter der Leitung von Hans Zender in Metz erlebt. Kein Wunder, dass man Aperghis eher als Meister kleinerer Besetzungen schätzt, wie 2013 sein „Situations“ für Kammerensemble bei den Donaueschinger Musiktagen. Dort faszinierte die Monotonie variantenreicher Gesten. Jetzt war es noch monotoner. In den vier älteren Etüden führte er die Orchestergruppen meist homophon in engen Clustern, als wäre die Lehrerinnenposaune aus Charlie Brown chromatisch aufgefächert worden. Folgte man dem von Moment zu Moment, so konnte dies Freude über kleinste Veränderungen bereiten. Wer dabei nicht ausstieg, atmete auf, als in der neuen Etüde Nummer fünf plötzlich der Intervallraum ausgeweitet wurde. Nummer sechs kehrte wieder zur Enge zurück, allerdings so lakonisch, dass man über die eigene Anspannung dräuender Wiederkehr des ewig Gleichen sich ärgern oder schmunzeln konnte. Vielleicht gibt es ja noch Überraschungen, wenn am Ende einmal ein Etüdenzyklus über alle Intervalle fertig sein sollte.
Vor der Pause versuchte Francesco Filidei mit „Fiori di fiori“ für Orchester den Sound der Mechanik der Orgel der römischen Basilica di San Giovanni nachzuzeichnen. Wie er seinen Kanon erweiterter Spieltechniken langsam ausbreitete und in Zitate aus Girolamo Frescobaldis „Fiori musicali“ überführte, mit modernen Kazoos barocke Zinken nachahmte, war fantastisch. Allerdings nahmen die Zitate kein Ende, so dass man bei den vielen Klarinetten- und Flötenklängen, die an eine arabische Naj-Flöte erinnerten, an deren extensiven Einsatz in Filmscores denken musste. Soviel eingelöste Erwartungshaltung war dann aber eine allzu einfache Steilvorlage für den großen Applaus. So blieb das faszinierendste Stück die dreisätzige „Altisonanza“ für Orchester von Niccolò Castiglioni. Sein vermischter Stil von offener Tonalität bis zu Dodekaphonie hatte ein wenig was von der Hans Werner Henze zugeschriebenen „Italianità“. Allerdings viel weniger opulent und viel luftiger bei Castiglioni! Hier ein rauschendes Kontrafagottsolo, da zarte Streicher, dort zackige Holzbläser. Dies aber immer zurückhaltend und sparsam eingesetzt, so dass es nie im angerissenen Topos verhaftet blieb: Was zu voll werden wollte, wurde wieder durch nachfolgende Leere ausgebremst, als hätten sich Carl Orff und Anton Webern in ihren besten Momenten miteinander versöhnt. Das zeigte vor allem der Mittelsatz, eine Sarabande. Sie fing an wie ein spätes Adagio des Wieners und wendete sich zu einem riesigen, aber in allen Lagen leise gespielten Streicher-Dur-Akkord, wie im „Cour d’amour“ im letzten Teil des bekanntesten Werkes des Münchners.