Der Wartesaal hat einen besonderen Münchner Bezug: der große Sohn Leon Feuchtwanger hat seiner Heimatstadt ab 1930 mit der „Wartesaal“-Trilogie, insbesondere im Eröffnungsband „Erfolg“ mit dem Aufstieg eines fragwürdigen Führers, ein unsterbliches „Denk-mal!“ gesetzt. Ein derartiger Saal prägte die durch kein Buh getrübte Eröffnungsinszenierung der Festspiele.
Wartesaal der Absurditäten – Die Münchner Opernfestspiele eröffnen mit György Ligetis „Le Grand Macabre“
Es ist eine späte Münchner Erstaufführung, dafür natürlich die revidierte Fassung von 1996 – und dafür kehrte der ehemalige GMD Kent Nagano in den ja vielfältig bestückten Orchestergraben zurück. Zu hören waren nach dem eröffnenden Hup-Konzert die mal gläsern kantigen, mal trügerisch irisierenden, mal lyrisch durchsichtigen Klang-Stücke, auch die Klangeruptionen. Die komponierten Rülpser, Kuckucksrufe und Kuhglöckchen kontrastierten und wurden von dem ein oder anderen Lach-Gluckser im Publikum kommentiert. Nagano ragte am Pult hoch empor und leitete mit klarer, ausdifferenzierter Zeichengebung souverän durch die vielerlei rhythmischen Vertracktheiten. Bei aller Spannung stellte sich im zweiten Teil des pausenlosen Abends doch das Gefühl „lang, zu lang“ ein. Auch die teils bizarre Klangwelt mit all ihren kleinen Zitaten aus der Musikgeschichte konnte den Eindruck „museal“ nicht weg-tönen.
Dennoch wirkte das Solistenensemble festspielgemäß: Benjamin Bruns soff sich als Piet vom Fass tenoral und darstellerisch agil durch seine berauschte Weltsicht; Sam Carls Astradamors war ihm ein baritonal ebenbürtiger Kumpan; Countertenor John Holiday schwankte als dubioser Fürst Go-Go überzeugend zwischen Ohnmacht und Auftrumpfen; die korrupt-selbstgefälligen „Schwarz-Weiß-Minister“ wurden von Kevin Conners und Bálint Szabó gekonnt grell charakterisiert; lediglich Michael Nagy hätte der zentralen Figur des abgründigen Gewaltherrschers Nekrotzar mehr düstere Grandiosität verleihen sollen. Dafür verstrahlten Seonwoo Lee und Avery Amereau als gender-wirres Liebespaar Amanda-Amando Höhenzauber, daneben Sarah Aristidou als Geheimpolizeichefin und Venus Biestiges und Lindsay Amman als Mescalina Mezzo-Verführung. Dazu gab es fein abgestufte Chor-Klänge (Einstudierung: Christoph Heil) und viel Aktion von differenziert ausgesuchter Statisterie.
All das hatte Regisseur Krzysztof Warlikowski im Wartesaal seiner Dauerausstatterin Malgorzata Szczęsniak vielfältig arrangiert: Koffer-bepackte Flüchtlingsströme in der Ödness des Betonsaales, auf- und abfahrende Metallgitterkäfige mit NATO-Draht à la Calais oder Melilla, bürokratisch inhumane Verwaltung von Menschen – das aber kein zentrales Thema des Werkes und damit hier „zusätzlich, weil unumgänglich aktuell“ ungebührlich vorgeführt! Andererseits dazu ein Pool-Ab-Einstieg, ein Turn-Pferd, allerlei Matten, zwei Kinder in wärmender Gold-Folie, am Ende alle Figuren mit abstrusen Tierköpfen, dazu Video-Projektionen von reisenden Menschenschatten, gegen Ende letzte nackte Menschen in einer Geröllwüste, dann der Crash unseres blauen Planeten in einen Riesenkometen – und auf der Bühne drei anscheinend gelandete Astronauten, die das finale Chaos untersuchen … und davor Gender-Tauschereien von Männer – und Frauenkleidern, Kick-Box-Andeutungen, durch Schönheitsoperationen verkleisterte Frauengesichter, ein Kunstturner und Breakdancer – und leider auch Warlikowskis anscheinend Unvermeidliches wie vielerlei Griffe in Schritt und Scham und natürlich Plastik-Pimmel und Brüste – kürzer: Warlikowski wollte „Alles aus Absurdistan“ zeigen, von „Breughelland“ und Hieronymus Bosch über „Heute“ bis zu interstellarem Universum.
Warlikowski wollte „Alles aus Absurdistan“ zeigen
Dieses Kaleidoskop ließ zwar das im Werk gestaltete „Casino Royal“, etwa als bitterböse Mischung aus Ballermann und Sylt, einfach szenisch aus, gelang sonst aber immerhin weitgehend. Nur: bei wachen Kunst-Freunden ist das derzeitige Krisen-Endzeit-Bewusstsein allerdings deutlich größer, ja fundamentaler, umfassender und erschreckender – und daher kaum theatralisch zu fassen. Dahinter bleibt schon Ligetis überarbeitetes Werk von 1996 zurück – so honorig es ist, statt „Süffigem“ ein sperriges „Denkt mal!“ an den Festspielbeginn zu setzen.
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