Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 fanden in Deutschland vielerorts Solidaritätskonzerte statt, oft mit speziell ukrainischen oder einfach kurzerhand umgewidmeten Programmen. Doch wie ist es jetzt nach dem bestialischen Überfall der Hamas-Terroristen, die in Israel wahllos 1400 Menschen ermordeten und dafür von Sympathisanten in vielen Ländern – auch in Deutschland – sogar noch gefeiert wurden? Ist die Situation diesmal anders, weil der Konflikt viel älter und komplizierter ist? Hat man Angst vor dem historisch, ethnisch, religiös, politisch und ideologisch verminten Terrain? Lähmen Abwägen, Vorsicht und Respekt vor der Komplexität des Konflikts? Lässt ästhetisches Empfinden davor zurückscheuen, Musik mit Botschaften zu befrachten, die sie von sich aus gar nicht sendet? Verstecken sich hinter dem weithin herrschenden Schweigen womöglich Duldung oder sogar Sympathie für antisemitisches Gedankengut?
Warum so teilnahmslos?
Immerhin erklärten sich Musikverbände, Opernhäuser und Orchester in offenen Briefen gegen Antisemitismus und Hass. Zudem gab es einzelne Konzerte zum Gedenken an die Opfer des Terrorangriffs vom 7. Oktober in der Hamburger Laeiszhalle, im Staatstheater Cottbus, vom Brandenburgischen Staatsorchester Frankfurt/Oder und auf Initiative von Igor Levit im Berliner Ensemble. Anlässlich des Gedenkens der Pogromnacht des 9. November 1938 traten an diesem Abend hoffentlich auch in manchen Konzert- und Opernhäusern die Intendantinnen und Intendanten mit Stellungnahmen gegen den neu entflammten Judenhass vor das Publikum. Doch soll das wirklich alles gewesen sein? Warum agiert die Mehrzahl der Musikschaffenden und Musikveranstalter gar nicht oder nur zurückhaltend? Die Brutalität und das Ausmaß des Hamas-Terrors gegen Jüdinnen und Juden – des schlimmsten seit dem Holocaust – verlangen gerade in Deutschland deutlichere Zeichen der Anteilnahme, klarere Bekenntnisse zum Schutz jüdischen Lebens und entschiedenere Verurteilungen menschenverachtender Gewaltverherrlichung.
Doch Veranstalter, Publikum, Kunst- und Musikschaffende verhalten sich mehrheitlich teilnahms-, einfalls-, mutlos. Wieso? Was ist hier los? Verwechselt man Konzertsäle einmal mehr mit hermetisch abgeschotteten Sondersphären, die das aktuelle Weltgeschehen durch eskapistische Gegenwelten erfolgreich ignorieren helfen? Was sollte so schwer daran sein, für die unverhandelbaren Grundrechte eines jeden Menschen einzutreten und jede Form von Terror, Hass, Gewaltverbrechen und Verstößen gegen diese Menschenrechte zu verurteilen? Gerade Musik bedarf dazu keiner großen Reden und Gesten. Wenige Worte und selbst Schweigen können zahllose Musikstücke jüdischer und nicht-jüdischer Komponistinnen und Komponisten eindringlich zum Sprechen bringen. Anlässlich des Gedenkens an die Reichspogromnacht vor 85 Jahren gestand Igor Levit im Gespräch mit Vizekanzler Robert Habeck, kein Ereignis habe ihn so sehr zum Juden gemacht, wie jetzt dieser schreckliche Hamas-Überfall. Und anschließend spielte der Pianist aus Felix Mendelssohn Bartholdys letztem Heft „Lieder ohne Worte“ op. 102 die Nummer 1 „Andante, un poco agitato“ in e-Moll, ein äußerlich ruhiger, aber innerlich aufgewühlter Klagegesang.
Uraufführungen:
- 01.12.: Alex Paxton, Jennifer Walshe, neue Werke für Stimme und Orchester, Musik der Zeit, WDR Funkhaus Köln
- 03.12.: Manfred Trojahn, Septembersonate – Kammerspiel in sechs Szenen frei nach der Erzählung „The Jolly Corner“ von Henry James, Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf
- 12.12.: Andrea Neumann, Günter Steinke, neue Werke für das Kammerensemble hand werk, Alte Feuerwache Köln
- 19.01.: Brett Dean, Faustian Pact (Hommage à Liszt) für Klavier, Lukaskirche Luzern
- 19.01.: Detlev Glanert, Konzert für Violoncello und Orchester, Philharmonie Luxembourg
- 23.01.: Moritz Eggert, Orck für Orgel, Kölner Philharmonie
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