Augenhöhle in der Medizin, Umlaufbahn in der Astrophysik, Menge der Zustände, die ein dynamisches System einnimmt in der Mathematik – all dies ist der „Orbit“. Und in der Kunst? Sind es Höhle und Bahn und System in einem. Zumindest, wenn das Ganze „Orbit Schönberg“ heißt, was der schöne Name ist für ein mutiges Unternehmen: Vier Abende, an denen das Kölner Asasello Quartett im Museum für Angewandte Kunst der Domstadt alle vier Streichquartette Arnold Schönbergs mit Klassikern einerseits kombinierte, mit Auftragswerken zeitgenössischer Komponisten andererseits. Eine Tat. In mehr als nur einer Hinsicht. Es gibt Neues zu berichten!
Doch zunächst die schlechte Nachricht. Schön ist es nämlich nicht gerade, was, Schönberg betreffend, landauf, landab zu vernehmen ist vom Urvater der Moderne. Genau genommen nicht von ihm, sondern davon, wie er vorkommt, hier und heute in unserem mehr oder minder offen auf Event getrimmten Konzertleben. Mehr als Schönberg-Häppchen lassen heutige Konzertveranstalter nämlich nicht zu. „Schönberg? Avec plaisir!“, heißt es in Paris. „Aber, liebe Leute, bitte nicht alle vier Quartette! Das Zweite mit Sopran reicht! Danach Reger? Nicht in unserem Haus!“ – „Schönberg, aber ja!“, heißt es auch in Hamburg. „Aber, wieso denn gleich alle vier Quartette? Wer will das denn hören!?“ Ein ziemlich klares Stimmungsbild, dem diese Stimme das Krönchen aufsetzt: „Um Himmelswillen, dann muss ich das ja auch senden!“
So oder so ähnlich die Reaktionen, als das Kölner Asasello Quartett vor ein paar Jahren mit der Idee einer zyklischen Aufführung des Schönberg’schen Streichquartett-Schaffens auf Konzertveranstalter im In- wie Ausland zugegangen war. Ergebnis: negativ. Für die Klassik-Verwerter zu radikal, für Veranstalter, die sich dem Zeitgenössischen verschrieben haben, zu traditionell. Das Ensemble damit in der Zwickmühle, bei der jeder Zug unweigerlich in die Selbstbeschneidung führt. – Was Asasello gemacht hat?
Es hat festgehalten an der Absicht, sich kurzerhand selbst zum Veranstalter erklärt. Eine kunstermöglichende Schlussfolgerung, die im Prinzip gar nicht hoch genug gepriesen werden kann. Dass schlussendlich alles glücklich aufgegangen ist, hatte allerdings auch mit ein paar Bündnispartnern zu tun, die dem Ensemble unterwegs zugewachsen waren: im Leipziger Klassik-Label Genuin einen mutigen Mitspieler, der 2016 die Schönberg-Quartette des Ensembles herausbringt; in Gestalt des Wiener Arnold Schönberg Center einen anderen starken Partner, der dem Großunternehmen „Orbit Schönberg“ im Mai 2018 zur Premiere verhilft. Mit an Bord sind zu diesem Zeitpunkt bereits Laura Remmler und Aischa-Lina Löbbert, ein Darstellerduo, das die Schönberg-Raumstation so wie sie jetzt auch in Köln zur Besichtigung freigegeben war, überhaupt erst auf ihre endgültige Umlaufbahn gebracht hatte. – Wie das? fragt man sich da gleich. Es geht doch um Musik, oder?
Durchaus, aber hier im Breitband-Format 4+2, das (wie in der Politik der Wendejahre) auch in diesem Fall etwas Neues zu Wege brachte. Das Publikum im Konzertsaal des Museums für Angewandte Kunst (als Konzertort für Köln eine ganz wunderbare Neuentdeckung!) bemerkte es am Setting. Vier Quartettabende gleich mit jeweils sechs Akteuren auf dem Podium. Remmler-Löbbert in Hosenrollen ließen die Finger schnipsen: Auftritt Schönberg! Vom Meister höchstpersönlich war in der Folge zu erfahren, was er so denkt über die Musik im Allgemeinen, die Zeitumstände im Besonderen, was ihm beim Komponieren durch den Kopf geht, warum 12-Ton. Diese Sachen.
Heiße Sache
Das zur Theaterbühne erweiterte Podium, vier Asasellos (nach „Asasel“, dem Dämon aus dem Bulgakow-Roman „Der Meister und Margarita“) plus zwei Theaterbesessene reichten aus, um die Abfolge Auftritt-Ausführung-Abtritt aus den Angeln zu heben, einem Kammermusik-Publikum wie mit dem Zauberstab ein neues Konzertformat schmackhaft zu machen. Die Sache war so heiß, dass manche unter uns in ihrem Trott die kühne Dramaturgie glatt übersahen. Da wurden die so herrlich frei wie fröhlich vor sich hinparlierenden Darstellerinnen plötzlich höchst unmissverständlich zum Verlassen der Bühne aufgefordert. „Kennen wir alles! Geben Sie Ruhe!“
Wo hatte man so etwas zuletzt erlebt? – Tatsächlich musste die eine und andere Hürde genommen werden. Zum Beispiel die, dass zwei Darstellerinnen sich in die Ausführung des c-Moll-Quartetts von Brahms einmischten, indem sie mitten in die Romanze des zweiten Satzes hineinsprachen. Ein bewusst herbeigeführter Tabubruch, der zur Folge hatte, dass durchs Format noch einmal ein Ruck ging. Auf einmal war man mitten im Live-Hörspiel. – Darf das?
Man hatte keine Zeit, lange darüber zu grübeln, kamen doch gleich die nächsten Formatwechsel ins Spiel. Alles war plötzlich in Bewegung. Was etwa beim dritten Abend, der dem 3. Streichquartett gewidmet war, auf den schönen Einfall hinauslief, ansatzlos das Hauff-Märchen „Die Geschichte von dem Gespensterschiff“ vorzutragen, jene gruselige Erzählung von der muselmanischen Schiffsbesatzung, die in tödlicher Erstarrung gebannt ist, ohne doch sterben zu können. Schönberg hatte diesen Horror-Klassiker im Kopf als er sein op. 30 schrieb. Ergebnis: Als die Asasellos das Quartett musizierten mit dem nichtendenwollenden Nageln der Staccato-Achtel war der Assoziationsraum auf einmal geöffnet, sehr weit geöffnet.
Mit dem Quartett Nr. 4 op. 37 stellte man sich am vierten Abend schließlich der existentiellen Situation des amerikanischen Exils, in das der Komponist Arnold Schönberg 1933 gezwungen wurde. Zwangsläufig tauchte mit dem vertriebenen deutschen Juden ein politischer Horizont auf. Man wich nicht aus, stellte sich dem Thema, wurde klar, eindeutig, indem man verletzte Menschenrechte benannte, um, wieder mit zeitrückendem Fingerschnipsen ruckzuck vorwärts zu modulieren. „2019 – das Asasello Quartett spielt Schönbergs 4. Streichquartett“. Schneller lässt sich Bezug nicht herstellen. Parallelen betonen, nicht die Distanz. Gegenwart herstellen. Alles zu Kunst machen.
Reiche Ernte
Apropos. Was die künstlerische Bilanz angeht, fiel die Ernte „Orbit Schönberg“ reich aus. Elf Streichquartette an vier aufeinanderfolgenden Abenden auf Exzellenz-Niveau zu präsentieren – dies muss man den Asasellos erst einmal nachmachen. Die Räume und Zeiten, die man als Ausführende bereiste, durcheilte, waren beträchtlich. Nicht nur, dass die vier Schönberg-Quartette für sich schon größtmögliche Wandlungsfähigkeit erfordern, eingespannt waren sie zudem in einen klassischen Rahmen einerseits, in einen zeitgenössischen andererseits. Überhaupt: Indem uns das Ensemble diesen ausgedehnten Vergleich ermöglichte, waren wir in der Lage zu hören, wie in Gestalt des im Milleniumjahr gegründeten Quartetts eine veritable Formation des 21. Jahrhunderts begegnet. Bezeichnenderweise waren es gerade die Auftragswerke – an Marton Illés, an Viera Janárceková, an Lisa Streich –, die die Formation mit der allergrößten Ruhe und Konzentration zur Ausführung brachte. Hier, das spürte man, war das Quartett ganz bei sich. Und man spürte auch, wie viel Kraft der Blick zurück kostet, mischte sich in die Ausführung der Klassiker, Schönberg inbegriffen, doch zuweilen eine Unrast, die bei Schönberg, bei Beethoven zumal, das Vertikale, das Konstruktive scharfkantig herausmeißelte. Sollten da zwei Titanen durch Bogendruck zu Zeitgenossen erklärt werden? – Viel „ungestümes Wehen“ an diesen vier Abenden. Stefan George, der fürs 2. Streichquartett vom Komponisten präferierte Dichter, wäre erfüllt gegangen. Wie wir.