Ein Preview, kein Surrogat. Alban Bergs „Lulu“ in der Ergänzung und Fassung von Eberhard Kloke für Kammerorchester und Soli feierte am Theater Heidelberg einmalige Premiere. Unser Kritiker Joachim Lange saß vor dem Bildschirm. Bühnenpraktisch gedacht und gemacht; er findet faszinierend, mit welcher vokalen Leichtigkeit und welchem rückhaltlosen körperlichen Einsatz Jenifer Lary die Wandlungen ihrer Lulu in Szene setzt.
Wenn sich ein Theater für ein Schmuckstück der Moderne wie Alban Bergs „Lulu“ entscheidet, ist noch lange nicht klar, welche „Lulu“ die erwartungsvollen Zuhörer bekommen. Und das liegt keineswegs am souveränen Eigensinn der Regisseure. Dass es sich um das überlieferte, von Berg vor seinem Tod 1935 nicht fertig komponierte Original handelt, gehört zu den eher seltenen Fällen. Es war der Wiener Friedrich Cerha (95) der die von den Zeitläuften gezauste Rezeptionsgeschichte von Bergs zweiter Oper auf Trab brachte. Er unternahm nämlich das Wagnis, das nur skizzenhaft Überlieferte zu vollenden. Also die Geschichte der männermordenden Frau bis zu ihrer eigenen Ermordung durch Jack the Ripper in der Londoner Absteige zu Ende zu erzählen. Seit ihrer Pariser Uraufführung 1979 hat diese dreiaktige Cerha-Fassung eine respektable Karriere gemacht. Allerdings ist es auch kein Nachteil, dass man die Auswahl hat. Nicht nur Cerha hatte das Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, sich auf Berg einzulassen. Sein jüngerer Hamburger Kollege Eberhard Kloke (*1948) konnte der Versuchung ebenfalls nicht widerstehen, etwas vom Glanz des Genies Berg auf sich zu lenken.
Für seine Gesamtbearbeitung der zweiaktigen Fassung für Soli und Kammerorchester wagten jetzt das Philharmonische Orchester Heidelberg unter der Leitung von GMD Elias Grandy nicht nur einen Praxistest, sondern profitierten zugleich von deren Passfähigkeit mit den gegenwärtig herrschenden pandemiebedingten Einschränkungen im Hinblick auf Abstände und Besetzungsstärke. Hier stützen sich Pragmatismus und Ambition gegenseitig. Auf der anderen Seite legt das Haus Wert darauf, dass es sich bei der einmaligen Livestream-Übertragung nur um ein Preview für die noch anstehende analoge Premiere handelt. Unter den vielen Varianten, digital mit den besonders die Theater und Opernhäuser malträtierenden Einschränkungen umzugehen, gibt es damit noch eine weitere. Zumindest die Bindung an die Zeit und Einmaligkeit der Vorstellung kommt dem Eigentlichen des Opernerlebnisses nahe.
Abgesehen davon ist es dem erfahrenen Theaterpraktiker Axel Vornam mit seiner Regie und Tom Musch mit seinem Bühnenbild gelungen, sich souverän (ob nun bewusst oder unbewusst) auch auf die Bedingungen einzustellen, die heimische Rezeption am Bildschirm nun mal haben. Es gibt mittlerweile etliche Beispiele, in denen die Szenerie bei einer Liveübertragung in der Dunkelheit von Bühnenräumen entschwanden und am Bildschirm nicht wieder hervorzuholen waren. Bei Vornam bleibt es klar und immer übersichtlich – selbst wenn die Beleuchtung gezielt wechselt oder Videoeinblendungen (sinnvoll dosiert: Stefan Bischoff) jenes Halbrund überblenden, das die Spielfläche begrenzt. Die vermittelt nicht nur beim Prolog des Tierbändigers die Atmosphäre einer Zirkusmanege. In dieser Rückwand gibt es vier Elemente, die sich wie Drehtüren nutzen lassen. Das ist alles ziemlich bühnenpraktisch gedacht und gemacht.
Die Kostüme von Cornelia Kraske sorgen für eine leichte Verfremdung ihrer Träger, die dazu passt. Wobei die Männer zwischen extravagantem Künstler (der Maler und der Tierbändiger) und konventionellen Anzügen changieren und die Geschwitz im maskulinen Nadelstreif und mit einem schwarz, auf Wotan geschminktem Auge ihre Art von Extravaganz betont. Ein dezentes Spiel mit den Klischees hier wie dort. Wenn sich Lulu für den Maler in Positur wirft, dann erinnert sie so lange an eine Marionette, bis sie ihr Kostüm bis auf Strapse und Korsett demontiert und den Maler ziemlich offensiv und mit Erfolg kirre zu machen versucht. Klar, dass den alten Medizinalrat (Wilfried Staber gibt daneben auch den gar nicht greisenhaften Schigolch) beim Anblick der beiden in einer Inflagranti-Situation der Schlag trifft. Dass der Anzugträger Dr. Schön – trotz der zur Schau gestellten Jugend und Sixpack-Attraktivität des Malers, eine Beziehung zu Lulu hat, die der jüngere nicht knacken, ja nicht mal verstehen kann, wird in Schöns überlegenem Habitus klar. Allerdings auch, dass sie mit ihm spielt. Und im Varieté nicht zum ersten Mal die Beziehung zu einer potenziellen Braut (zer-)stört.
Dass Lulus laszive Skrupellosigkeit bei den Männern verfängt, wirft vor allem ein Licht der Erkenntnis auf deren verkorkstes Frauenbild. Dazu passt die Empathielosigkeit, mit der sie die Opfer zur Kenntnis nimmt, die sich mit der Zeit an ihrem Weg häufen. Beängstigend, wie sehr sie in dieser Hinsicht mit sich im Reinen ist: „Wenn sich die Menschen um meinetwillen umgebracht haben, so setzt das meinen Wert nicht herab“ – so Lulu in einem ziemlich klarsichtigen Moment.
Es ist faszinierend, mit welcher vokalen Leichtigkeit und welchem rückhaltlosen körperlichen Einsatz Jenifer Lary die Wandlungen ihrer Lulu in Szene setzt. Ebenfalls bewusst mit dieser Art Doppelpräsenz, die die Stimmkraft mit der optischen Wirkung verbindet, spielen João Terleira als Maler und Ipča Ramanović als Tierbändiger und Athlet. Während James Homann als sonorer Dr. Schön auf die väterlich bürgerliche Seriosität seiner Erscheinung setzt. Corby Welch dagegen taugt als Alwa mit seinem spießigen Habitus für Lulu nur als Verführungsaufgabe für Zwischendurch. Souverän fügt Zlata Khershberg dem Kreis der Opfer Lulus eine in dieser Version ja überlebende, und auch sonst noch ziemlich bei sich bleibende Gräfin Geschwitz hinzu. Elias Grandy nutzt die Möglichkeiten der Fassung für dramatische Zuspitzung und Transparenz – zumindest in der Übertragung wirkten Bühne und Graben in einer Balance, die ein überzeugendes Fundament für einen spannenden Opernabend war.
Musikalisch und szenisch ein gelungenes Lulu-Preview, dem man die analoge Version im Hause nur wünschen kann.