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Elastische Musizierhaltung: Pekka Kuusisto schüttelt György Ligetis Violinkonzert aus den Ärmeln. Foto: Kai Bienert
Elastische Musizierhaltung: Pekka Kuusisto schüttelt György Ligetis Violinkonzert aus den Ärmeln. Foto: Kai Bienert
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Weites Panorama, locker strukturiert

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Das Musikfest Berlin 2016 baute auf mehreren Programmschwerpunkten auf
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So bunt und vielgestaltig wie in diesem Jahr war das Musikfest Berlin noch nie. Ausgangspunkte der Planung waren der 150. Geburtstag Ferruccio Busonis sowie das deutsch-mexikanische Jahr 2016, wofür in der Berliner Kunstbibliothek eine Busoni-Ausstellung sowie im Gropius-Bau eine bis August gezeigte große Maya-Schau entstanden. Diese Schwerpunkte setzte das Musikfest mit seinen Mitteln fort, wobei Winrich Hopp der kuratorischen Fantasie keine engen Grenzen setzte. Als weitere Themenfelder kamen Musik & Film hinzu sowie der vor zehn Jahren verstorbene Komponist György Ligeti. Der rote Faden, der die Programme verknüpfte, war locker gesponnen und oft noch kaum erkennbar. Aber dieses Geflecht ermöglichte Querverbindungen und mehrere Höhepunkte.

Mexiko und die Amerikas

Auf Mexiko verwies vor allem das Eröffnungskonzert mit Wolfgang Rihms rhythmisch explosiver Tanzdichtung „Tutuguri“ nach Antonin Artaud, vom Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks unter Daniel Harding mitreißend dargeboten. Das mittelamerikanische Mexiko ergänzte Hopp großzügig um Nord- und Süd­amerika. Für Kalifornien standen der Komponist John Adams, der bei den Philharmonikern eigene Werke dirigierte, Filmmusik aus Hollywood mit dem von Simon Rattle empfohlenen John Wilson Orchestra sowie avantgardistische Rockmusik von Frank Zappa. Die Schranken zwischen E- und U-Musik wurden damit aufgebrochen.

Adams hatte sich 1985 mit seinem Orchesterwerk „Harmonielehre“ von Schönberg distanziert; mit dem ironisch verwendeten Titel verband er vielmehr die Suche nach eigener Harmonie, nach der Verwirklichung von Träumen.

Die damals noch recht plakativen Resultate hat Adams mittlerweile verfeinert und weit entfernt von den Minimal-Music-Anfängen bis zur Neo-Romantik erweitert, wie seine dramatische Symphonie „Scheherazade.2“ für Violine und Orchester verriet. Die orientalische Märchenfigur stellte er dabei als eine der Männerherrschaft unterworfene Frau dar. Leila Josefowicz war die Protagonistin, die sich mutig der Männerwelt – repräsentiert durch das Orchester – widersetzte. In enger Zusammenarbeit mit dieser fabelhaften Geigerin war das viersätzige Werk entstanden, das ein weites stilistisches Spektrum von zerklüfteten Rhythmen bis zu impressionistischem Ganztonzauber umfasst.

Die Solistin und der Komponist, in der nächsten Saison composer in residence bei den Berliner Philharmonikern, wurden für die ungewöhnlich intensive Interpretation zu Recht bejubelt. Wie wichtig es ist, dass der Solopart vom passenden Solisten gespielt wird, hatte sich einige Tage zuvor bei Olga Neuwirths neuem Schlagzeugkonzert „Trurliade – Zone Zero“ gezeigt; für Martin Grubinger sprang hier Robyn Schulkowsky ein, deren freundlich-federndes Spiel wenig zu dem verzweifelten Kampf mit der Macht passte, der sich hier in Anlehnung an Stanislaw Lem entfalten sollte.

Perfektion allein garantiert noch keine starke Wirkung, wie das Deutschland-Debüt des John Wilson Orchestra erwies. Dessen „Celebration of the MGM Film Musicals“, gespielt­ nach aus den Hollywood-Filmen rekonstruiertem Notenmaterial, wirkte etwas zu bemüht „klassisch“. Dagegen gelang es dem Ensemble Musikfabrik, Stücke von Frank Zappa so lebendig über die Rampe zu bringen, dass man kaum glaubte, dass die gleichen Solisten eben erst Werke von Edgard Varèse gespielt hatten. Hervorzuheben sind hier der Schlagzeuger Dirk Rothbrust und der Keyboarder Ulrich Löffler. Dank der Drehbühne im Haus der Berliner Festspiele kam es auch ohne aufwändige Umbauten zu einem fliegenden Wechsel.

Eine Brücke zwischen Nord- und Südamerika schlägt Gustavo Dudamel, der seit seinem 18. Lebensjahr das aus dem venezolanischen „Sistema“ hervorgegangene Orquesta Sinfónica Simón Bolívar leitet, inzwischen aber auch Chefdirigent in Los Angeles ist. Er reiste mit seinem venezolanischen Jugendorchester an, das als soziales Projekt begann, inzwischen aber zu einem weltweit gefeierten Vorzeigeobjekt geworden ist. Statt jugendlichem Elan ist heute bei Dirigent und Orchester eher altmeisterliche Perfektion zu erleben. Bei den Bachianas Brasileiras Nr. 2 von Heitor Villa-Lobos faszinierten die dunklen Farben von Saxophon, Celli und Kontrabässen, zum Schluss die muntere Imitation einer Zugfahrt. Messiaens großbesetzte Turangalîla-Symphonie brachte den Wechsel vom Folkloristischen ins Repräsentative, was die Solisten Jean-Yves Thibaudet (Klavier) und Cynthia Millar (Ondes Martinot) noch durch Modefrisuren und Designer-Roben unterstrichen. Der Glamour von Los Angeles prägte dieses beispielhafte Jugendprojekt unübersehbar.

Anreger Busoni und Ligeti

Zur Eröffnung der Busoni-Ausstellung gab es ein Matineekonzert mit dem Klavierduo Andreas Grau und Götz Schumacher. Sonst war Busoni beim Musikfest durch Edgard Varèse vertreten; er hatte einst bei Busoni studiert und wurde von dessen Ästhetik stark geprägt. Das groß besetzte Varèse-Werk „Arcana“ (1927) war bei den Philharmonikern unter Andris Nelsons noch etwas pauschal zu erleben, viel differenzierter dagegen die „Déserts“ für 15 Instrumentalisten, 5 Schlagzeuger und Tonband (1954), sein letztes vollendetes Orchesterwerk, mit der Jungen Deutschen Philharmonie unter Jonathan Nott. Eingebettet in Rock-Klänge des Varèse-Fans Frank Zappa bot das Ensemble Musikfabrik schließlich neben der epochalen Schlagzeug-Komposition „Ionisation“ (1931) das auf Maya-Texten beruhende „Ecuatorial“ und das heute schon anachronistisch wirkende Tonbandstück „Poème électronique“, das 1950 für die Brüsseler Weltausstellung entstand.

Als Anreger begriff Winrich Hopp auch György Ligeti, dessen frühes „Concert Românesc“ das Deutsche Symphonie-Orchester Berlin unter Jakub Hruša spielte, und dessen Violinkonzert mit dem phänomenalen Pekka Kuusisto zu erleben war. 1968 war Ligeti in Stockholm auf die „Sfaerernes Musik“ des 1952 verstorbenen Rued Langgaard gestoßen und erkannte angesichts der hier schon 1916 verwendeten Klangflächen und Clusterklänge in diesem dänischen Sonderling einen Vorläufer; seitdem bezeichnete sich Ligeti als „Langgaard-Epigonen“. Die Aufführung dieser wegweisenden Sphärenmusik durch Solisten, Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin unter Donald Runnicles, noch ergänzt um den 1. Akt von Wagners „Walküre“ mit der grandiosen Sopranistin Anja Harteros, bedeutete einen Höhepunkt des Musikfests.

Weitere Höhepunkte

Dass in diesem Jahr die drei großen Münchner Orchester in Berlin gastierten, war Hopps hervorragenden Kontakten zur bayerischen Landeshauptstadt zu verdanken. Der Fes­tival-Eröffnung mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks folgte wenige Tage danach ein verspätet beginnender Auftritt der Münchner Philharmoniker unter Valery Gergiev mit der inbrünstig-knappen Sinfonie Nr. 3 für Sprecher und Orchester von Galina Ustwolskaja und der gewaltigen, zwischen Brutalität und Zartheit wechselnden 4. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch. Mit besonderer Neugier wurde das Bayerische Staatsorchester erwartet, stand doch am Pult der künftige Rattle-Nachfolger Kirill Petrenko. Ohne Stab und mit kleinen Bewegungen ließ er die Vielstimmigkeit von Ligetis „Lontano“ mit feinsten, gut ausgehörten Farbwechseln aufblühen; auch der Klangpracht der „Sinfonia Domestica“ von Richard Strauss fehlte es nie an Durchsichtigkeit. Nicht weniger überzeugte Bartóks erstes Violinkonzert mit dem Solisten Frank Peter Zimmermann – ein weiterer, lebhaft gefeierter Höhepunkt des Musikfests.

Unter den Beiträgen zum Thema Musik & Film ragten neben audiovisuellen Produktionen zu Musik von Wolfgang Rihm und Artur Schnabel vor allem das Filmkonzert mit dem Eisenstein-Film „Iwan der Schreckliche“ und der Musik von Sergej Prokofjew hervor. Eisenstein hatte 1941 von Stalin den Auftrag erhalten, den ersten russischen Zaren als dessen Vorläufer darzustellen. Er machte daraus vor allem im zweiten Teil eine Warnung vor der diktatorischen Macht eines Einzelnen – kein Wunder, dass Stalin dies missfiel. Prokofjews Musik unterstreicht in diesem Gesamtkunstwerk nicht zuletzt durch viele Chöre (sehr überzeugend der Rundfunkchor Berlin) den patriotischen Charakter des Ganzen. Frank Strobel hatte die Originalmusik zu beiden Teilen des Films rekonstruiert und brachte sie im ausverkauften Konzerthaus Berlin nun eindrücklich zur Erstaufführung. Es war der Schlusspunkt einer langjährigen Auseinandersetzung des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin mit dem Werk Sergej Eisensteins.

Während das diesjährige Musikfest weniger internationale Orchester als sonst präsentierte, wuchs der Anteil neuer und neuester Musik. Pierre-Laurent Aimard bot in einer Hommage für Pierre Boulez dessen Gesamtwerk für Klavier, Isabelle Faust spielte Luigi Nono, das Ensemble intercontemporain widmete sich Matthias Pintscher und Wolfgang Rihm und das Ensemble Resonanz mit der Solistin Tabea Zimmermann neuen Werken von Enno Poppe und Rebecca Saunders. Damit übernahm das Musikfest auch Aufgaben der MaerzMusik, die unter Berno Odo Polzer immer mehr in musikferne Bereiche abdriftet.

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