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GewandhausChor & Gregor Meyer. Foto: © Jens Gerber, 2016
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„Welt-Ende“ im Gewandhaus zu Leipzig: Joachim Raffs Oratorium als Pfingstwunder

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Allmählich kommt das Gedenkjahr für Joachim Raff in Schwung. Calixto Bieto beginnt in Weimar mit den Proben zu „Samson“, Raff-Editor Volker Tosta stellt die Noten zu „Die Eifersüchtigen“, einer Produktion des Opernkollektivs Zürich zum 50-Jahre-Jubiläum der Joachim-Raff-Gesellschaft, fertig. Dem aus der Schweiz stammenden Komponisten, einem zu Lebzeiten offenbar etwas schwierigen Angehörigen des Weimarer Liszt-Kreises, gelten im September 2022 gleich zwei wichtige posthume Uraufführungen. Dieses lange Vergessen ist unverständlich, erst recht nach der Aufführung von Raffs monumentalem Oratorium „Welt-Ende – Gericht – Neue Welt“ op. 212 mit dem GewandhausChor am 26. Mai in der Pfarrkirche von Raffs Geburtsort Lachen und am Pfingstmontag in Leipzig.

Seine Sinfonien mit ihren programmatischen Titeln standen zu Lebzeiten von Joachim Raff (1822-1882) regelmäßig auf den Programmen der Großen Gewandhaus-Concerte. Aber so recht warm wurde das Leipziger Publikum doch nicht mit Raffs Partituren, die es nie ins Kernrepertoire schaffen sollten. Dramaturgin Ann-Katrin Zimmermann vermutet, dass diese Vernachlässigung auch mit der Reserviertheit der Leipziger Muskkreise gegenüber Franz Liszt, dem weltläufigen Weimarer Hofkapellmeister und Gründer der dortigen Musikhochschule, zu tun hatten. Verbalinjurien von fortschrittlich gesinnten Musikkollegen taten ein übriges, um Raffs Ruf für die Nachwelt zu schädigen. Immerhin hat er eine kleine und sehr rührige Anhängerschaft. Auf die Uraufführung der Oper „Samson“ – ein biblisches Sujet wie „Welt-Ende“ – darf man nach dem Erleben des Oratoriums „Welt-Ende – Gericht – Neue Welt“ gespannt sein. Die lyrische Beziehungsoper „Benedetto Marcello“ über das Musiker-Ehepaar Cuzzoni-Hasse bei den Herbstlichen Musiktagen Bad Urach vor circa 20 Jahren und die Inszenierung von Raffs lyrischer Komödie „Dame Kobold“ durch Brigitte Fassbaender am Theater Regensburg 2020 überzeugten überwiegend. Aber der Begeisterungsfunke zündete noch nicht so stark wie gewünscht.

Das dürfte im Falle von „Welt-Ende – Gericht – Neue Welt“ hoffentlich anders werden. Dieses Oratorium ist ein dramaturgisch und formal ungewöhnliches Werk. Uraufgeführt wurde es in der Stadtkirche Weimar am 17. Januar 1882, fünf Monate vor dem Tod des Komponisten. Nicht einmal Raffs Witwe konnte in den Folgejahren die vielen offenen Fragen zum Vermächtniswerk des Sinfonikers und Opernkomponisten beantworten. Die Partitur nach der Apokalypse des Johannes war ein Sonderfall. Entstanden im Kontext des Kulturkampfes von Otto von Bismarck gegen den Einfluss der katholischen Kirche im Deutschen Kaiserreich hatte sich Raff nicht der von Richard Wagner und anderen ausgehenden Hybridisierung musikalischer Formen und Erfindungen angeschlossen. Auch deshalb fällt sein Oratorium auffallend aus der Reihe sowohl der Traditionen wie der fortschrittlichen Gruppierungen: Es erfordert nur zwei statt vier Solopartien. Ein hoher Bariton ist der ‚klassische‘ Erzähler oder Evangelist. Die Altstimme setzt vertiefende oder emotionale Kommentare. In zahlreichen Zwischenspielen entfesselt Raff fast einen ähnlichen Sog wie Wagner in seinem vergleichbar apokalyptischem „Ring des Nibelungen“. Massiv-üppige Crescendi über mehrere Minuten, gewaltige Chorwirkungen, bizarre Effekte zum Beispiel in den exponierten Flötenstimmen und sehr aparte Harmoniereize wirken in „Welt-Ende – Gericht – Neue Welt“ suggestiv auf die Einbildungskraft.

Seit mehreren Jahren fallen die Aufführungen die Leipziger Aufführungen der vom Verlag Breitkopf & Härtel edierten Oratorien des 19. Jahrhunderts auf biblische Sujets auf das Pfingstwochenende. Diese Initiativen des GewandhausChor-Leiters Gregor Meyer, der gerade seine Edition mit Werken von Bachs Thomaskantor-Amtsvorgänger Johann Kuhnau finalisiert hatte, sind tatsächlich ein internationales Alleinstellungsmerkmal. Raff klingt unter Meyers Leitung annäherungsweise wie von Berlioz und Liszt neu instrumentierter Mendelssohn.

„Welt-Ende“ ist keine „Oper im Frack“ wie Marx’ mit dem GewandhausChor für CD eingespielter „Mose“ und kein nazarenermildes Schönstück wie „Christus der Auferstandene“ des Thomaskantors Gustav Schreck. Raffs Formbildung wirkt ähnlich originär wie Brahms’ „Ein deutsches Requiem“. Dieses hatte für den betreffend thematischer Nischenfindung in Instrumental- und Sakralwerken sehr kreativen Raff sicher einen Ermutigungskick bedeutet. Wie das in Deutschland von der katholischen Kirche in Ermangelung landeseigener vergleichbar packender Kompositionen als Repräsentationsstück genutzte Verdi-Requiem lässt Raffs zweistündiger Oratorien-Dreiteiler eine episch-lyrische oder eine zugespitzt dramatische Lesart zu.

Von dieser impliziten Dramatik, zu der sich der glänzend disponierte GewandhausChor bei sich bietenden Gelegenheiten aufschwang, hätte man sich in der Leipziger Aufführung etwas mehr gewünscht. Meyers respektvolle und mehr rückblickende Leistung lässt diesen einmal mehr als Epigonen erscheinen. Marie Henriette Reinhold macht trotzdem hörbar, dass nach Wagners Urmutter Erda und auf dem Weg zu Mahlers „Urlicht“ auch Raffs Mezzosopran-Part einen Akt esoterischer Hochdramatik beinhaltet. Andreas Wolf zeigt sich als Evangelist Johannes sehr akkurat in Diktion und Vokallinie. Die Positionierung des umfangreichen Parts als referierender Erzähler oder Sangesstreiter im jüngsten Gericht ist eine Sache der persönlichen Haltung des Interpreten wie in den Passionen Bachs. Von den Anwesenden im gut gefüllten Saal gab es viel Jubel.

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