Schon mit 19 Jahren, als junger Kapellmeister in Lüdenscheid, habe er das Musiktheater als seine Domäne entdeckt, gab Kurt Weill einmal zu Protokoll. Doch 64 Jahre nach seinem Tod bleibt auf deutschen Bühnen jenseits von „Dreigroschenoper“ und „Mahagonny“ immer noch viel zu entdecken – auch wenn sich die amerikanische Oper „Street Scene“ inzwischen im Repertoire etabliert.
Und so war die wichtigste Aufführung beim 22. Kurt-Weill-Fest in Dessau-Roßlau ein Gastspiel im Anhaltischen Theater. Die Staatsoperette Dresden präsentierte die szenische europäische Erstaufführung von „Viel Lärm um Liebe“, eine deutsche Fassung der 1944 uraufgeführten Broadway-Operette „The Firebrand of Florence“ – wobei mit „firebrand“ („Brand-“ oder „Unruhestifter“) der legendäre italienische Bildhauer Benvenuto Cellini (1500–1571) gemeint ist. Auf ein mäßig witziges Szenario von Edwin Justus Mayer und amüsante Liedtexte von Ira Gershwin, die an die deutschen Schlager der 20er-Jahre erinnern, schrieb Weill eine Operette in Offenbach’scher Tradition – nicht ohne nostalgische Anklänge an Wien, Johann Strauß und Franz Lehár.
Seiner Frau Lotte Lenya, die aus Wien stammte, hatte Weill die Rolle der liebeshungrigen Herzogin reserviert, die es auf den attraktiven Künstler Cellini abgesehen hat. Der hat aber nur Augen für sein Modell Angela, an dem seinerseits der regierende Herzog Alessandro de Medici Gefallen findet. Daraus entwickeln sich operettenübliche Verwicklungen, die durch Hofintrigen und Cellinis ureigene Rauf- und Kampfeslust verschärft werden. Musikalisch beeindruckt das Stück durch kompositorische Feinheiten, vor allem durch ausgefeilte Chorsätze bis hin zur Madrigalparodie. Ausgerechnet in der Endphase des Zweiten Weltkrieges unterlief dem Emigranten und überzeugten Amerikaner Weill hier ein Stück voll hintergründiger Europa-Nostalgie. Am Broadway war es ein gewaltiger Misserfolg, und erst 1999 wagte die Ohio Light Opera Company eine Wiederaufführung.
14 Jahre später beweist die Staatsoperette, dass „Viel Lärm um Liebe“ auf deutschsprachigen Bühnen funktioniert. Dazu verhilft Roman Hinzes gelungene Übersetzung, die die Wortspiele des Originals gut nachempfindet. Andreas Schüller dirigiert mit viel Gespür für die Partitur ein ausgesprochen gut aufgelegtes, souveränes Ensemble. Das Ballett glänzt mit witzigen Choreographien. Regisseur Holger Hauer stellt das Stück klar in die Operettentradition und zeigt Mut zum pointierten Klamauk. Denkbar wäre auch eine Inszenierung, die das prekäre Verhältnis von Kunst und Staatsmacht stärker aufs Korn nimmt. Herzog Alessandro, diese interessante Mischung aus operettentypischem Duodezfürsten und den altrömischen Kaiser Nero, bewahrt Cellini, einen charmanten Wiedergänger des Macheath aus der „Dreigroschenoper“, nämlich vor dem Galgen, damit er eine angefangene Statue fertigstellt. Von der gegenwärtigen Landesregierung in Sachsen-Anhalt hingegen kann man sich kaum vorstellen, dass sie einen Künstler oder eine Kulturinstitution länger leben ließe als einmal dekretiert.
Wie gereizt die Stimmung in Dessau-Roßlau inzwischen ist, spürt man am diesjährigen Beitrag des Anhaltischen Theaters zum Programm. Angekün-digt war John Gays und Christopher Pepuschs „Beggar’s Opera“, die Vorlage zur „Dreigroschenoper“. Regisseur André Bücker und sein Co-Autor Andreas Hillger finden die Satire nicht mehr im Stück selbst, sondern in der Politiker-Karikatur eines Mr. Hopeman, der aus dem Zuschauerraum die Aufführung unterbricht und das Theater wegrationalisieren will. Vordergründig ist die vom Publikum lebhaft akklamierte Aufführung spitz und unterhaltsam. Im Nachklang spürt man, wie nahe beieinander Wut und Selbstzerstörung liegen. Am Ende findet sich Hopeman geknebelt und in einen Teppich eingerollt, aber von der „Beggar’s Opera“ ist nicht viel übrig geblieben.
In der sachsen-anhaltischen Krise, die manch einer „Kulturkampf“ nennt, geht es nicht nur um die Existenz von Künstlern und Kulturinstitutionen, sondern auch um das Selbstverständnis und die Zukunftsperspektive der Gesellschaft überhaupt. Doch am Ende des Streits könnten, wenn nicht in letzter Minute „der reitende Bote des Königs erscheint“, lauter Verlierer am Boden liegen. Über die Reste einer zerfallenden Zivilgesellschaft dürften dann die Neonazis stampfen, denen die Bürger von Dessau-Roßlau beim diesjährigen Weill-Fest noch tapfer Paroli boten.
Als dritte Musiktheater-Produktion gab es in der Marienkirche Weills amerikanische Schuloper „Down in the Valley“. Als Wiederaufnahme in neuer Besetzung schlug das ursprünglich als Radio-Oper konzipierte Stück die Brücke nicht nur zum Vorjahresmotto „New York, New York“, sondern auch zum diesjährigen Schwerpunktthema „Aufbruch. Weill & die Medien“. Zugleich waren mit der Anhaltischen Philharmonie Dessau und ihrem GMD Antony Hermus die diesjährigen Artists-in-Residence zu erleben. Als weitere wichtige Radioarbeit Weills brachten sie im Eröffnungskonzert den „Lindberghflug“. Das Orchester der Komischen Oper Berlin gastierte mit dem „Berliner Requiem“.
Hermus und die Anhaltische Philharmonie trotzen der Krise auf ihre Weise: In 17 Tagen spielte das Orchester in 12 Veranstaltungen 8 verschiedene Programme – und dies mit nie nachlassender künstlerischer Leidenschaft, die viele Aufführungen zum Ereignis machte. „Down in the Valley“ wurde unter Hermus’ nuanciertem Dirigat zum Lehrstück dafür, was ein versierter Komponist mit satztechnischen und instrumentalen Mitteln einem Volkslied an atmosphärischen und emotionalen Nuancen abgewinnen kann. Bei der Intensität, mit der der GMD und sein Orchester in den Klang hineinhorchten, wirkte selbst ein Repertoirestück wie Antonín Dvoráks „Sinfonie aus der Neuen Welt“ wie neu geboren aus dem Moment heraus. Mit der „Indianischen Fantasie“ und der „Berceuse élégiaque“ war endlich einmal Ferrucio Busoni auf dem Programm vertreten, der als Kompositionslehrer und Mensch nachhaltigen Eindruck auf Weill hinterließ. Und mit Bohuslav Martinus Orchesterstück „La Bagarre“ und Louis Gruenbergs Kammerstück „The Daniel Jazz“ (für Singstimme und acht Personen) präsentierte die Anhaltische Philharmonie kostbare Raritäten und richtete den Blick auf interessante Weill-Zeitgenossen.
Mit dem viel beachteteten Twitter-Konzert „Tweetfonie“ machten Orchester und GMD nicht nur auf die Situation in Dessau-Roßlau aufmerksam, sondern lieferten auch ein eindrucksvolles Beispiel für den kreativen Umgang mit neuen Medien im Sinne Weills. Über Twitter eingesandte Melodien oder Themen wurden über Nacht von erfahrenen Komponisten und Arrangeuren zu Miniatur-Orchesterstücken weiterverarbeitet, die das Orchester dann vom Blatt weg interpretierte – verfolgbar nicht nur auf der Bauhausbühne, sondern auch per Livestream im Internet.