Väter und Söhne – ein ewiges Thema: des Theaters, der Literatur, auch der Gesellschaft, in der man lebt, leben muss, weil man dort hineingeboren ist. Fast unendlich die Zahl der Figuren, die den Vater-Sohn-Konflikt allein auf der Bühne austragen: der Sohn, der am übergroßen Vorbild des Vaters zerbricht, der fatale Ehrgeiz eines mittelmäßig begabten, gleichwohl erfolgreichen Künstler-Vaters, dessen genialer Sohn aus der Bahn geworfen wird wie in Gerhart Hauptmanns „Michael Kramel“. Lapidar und böse antwortet bei Samuel Beckett der Vater auf die Frage des Sohnes, warum er ihn überhaupt „gemacht“ habe: „Ich wusste nicht, dass du es werden würdest.“
Zynischer – und wahrer – geht es kaum. Auch Heiner Müller setzte sich mit dem Vater-Sohn-Thema auseinander. Im Jahr 1958 verfasste er einen Text „Der Vater“, im Kontext zu seinem Stück „Germania: Tod in Berlin“. Dort heißt es: „Ein toter Vater wäre vielleicht ein besserer Vater gewesen. Am besten ist ein totgeborener Vater.“
Heiner Müllers Reflexionen verarbeiten eigene, persönlichste Erfahrungen. Kurz nach Hitlers „Machtergreifung“ wird sein Vater, ein altgedienter Sozialdemokrat, in der Nacht verhaftet. Der kleine Sohn, fünf Jahre alt, stellt sich vor Angst schlafend – und dieser unbewusste Schritt entscheidet alles später Folgende. Beim Besuch mit der Mutter im Lager erscheint das Bild des Vaters hinter dem engmaschigen Drahtzaun wie ein Schemen. Der Vater wird eines Tages wieder entlassen, aber die Familie muss das angestammte Wohnquartier verlassen. Man schlägt sich durch. Zwischen Vater und Sohn aber ist etwas zerbrochen, was nicht wieder herstellbar erscheint. Am Ende, schon nach dem Krieg, besucht der Sohn den kranken Vater noch einmal in einer Isolierstation: Nur durch eine Glaswand darf er ihn sehen – die Erinnerung ruft das frühe Bild im Gefangenenlager wieder wach. Wer Müllers Text liest, den bedrückt unverändert die seelische Grausamkeit, mit der hier zwei Menschen durch die Verblendung des Politischen in die persönliche Katastrophe getrieben werden. Das Vater-Sohn-Thema greift über das Privat-Psychologische hinaus, wird zum Politikum: Angeklagt sind alle, die Menschen die Seele zerstören. Das darf man als zeitlose Botschaft von Müllers Text nehmen.
Das innere Drama, das hier wirksam wird, hat den 1958 geborenen Westschweizer Komponisten Michael Jarrell magisch angezogen. Schon in seinem ersten Bühnenwerk, dem Monodram „Cassandre“ nach Christa Wolf, fand er für das Ausgestoßensein der antiken Seherin Klänge, die die psychische Anspannung der Figur mit ungeheurer Intensität spiegelten.
Auch „Le Père“ – in einer französischen Übersetzung von Jean Jourdheuil – bevorzugt Stilmittel des Monodrams, allerdings in einer vielschichtigen Dramaturgie. Wenn der Darsteller Gilles Privat die Erinnerungen des Sohnes an den Vater bruchstückhaft in einem sachlichen Erzählton vorträgt, entfaltet ein reich besetztes Schlagzeug – die fabelhaften Percussions de Strasbourg – dazu eine zweite musikalische Bericht-Ebene, in der sich zwischen harten Schlägen und zartesten klanglichen Entfaltungen bis hin zu Zischen und Sirren die gesprochenen Ereignisse gleichsam kontrapunktisch spiegeln.
Äußerst subtil werden die Live-Klänge durch das Pariser Ircam in den Raum projiziert, ebenso die begleitenden Stimmen dreier Sängerinnen, die dem Klanggeschehen oft etwas Seraphisches und Überhöhendes verleihen – eine Art klingender Utopie. In der Verbindung von reinem Sprechton und frei korrespondierender Klangpartitur zeichnet sich Jarrells Musiktheater auch hier wieder durch Originalität und Individualität aus. Seine ästhetischen Imaginationen öffnen sich dabei bedrängenden Themen, die der Komponist bevorzugt in der Literatur aufspürt, die er jedoch nicht im Stil einer Literaturoper verarbeitet, sondern als freies Assoziationsmaterial für seine Komposition. Mit „Le Père“ haben die Schwetzinger Festspiele ihren vielen Uraufführungen in den vergangenen Jahrzehnten einen neuen Glanzpunkt zugefügt.
Auch was die szenische Umsetzung betrifft. Dem Regisseur André Wilms und seinem Team gelang eine Aufführung von großer Dichte und Innenspannung, an der neben dem Erzähler Gilles Privat auch der „Junge“ (alias Heiner Müller) von Nicholas Mergenthaler und die drei Sängerinnen von den Stuttgarter Neuen Vocalsolisten (Susanne Leitz-Lorey, Raminta Babickaite und Truike van der Poel) entscheidenden Anteil hatten.