Peter Stieber, Präsident des Landesmusikrates Rheinland-Pfalz, benennt das Problem: „Orchester sind traditionell ‚Einzelkämpfer’, und die Solidarisierungsidee ist nicht so weit verbreitet.“ Trotzdem ist es dem Landesmusikrat gelungen, zum Tag der Musik am 16. Juni alle fünf Orchester des Landes in kommunaler und staatlicher Trägerschaft in der Landeshauptstadt zu versammeln, um sich dort in der Vielfalt ihrer Angebote zu präsentieren. Von den sechs großen Profiensembles fehlt nur die Deutsche Radiophilharmonie Saarbrücken-Kaiserslautern.
Bei der Eröffnung um 15.00 Uhr vor dem Mainzer Staatstheater ist die politische Prominenz sichtlich angetan von dem Projekt. Oberbürgermeister Michael Ebling findet die schöne Formulierung: „Heraus aus den Orchestergräben, hinaus auf die Plätze.“ Kulturministerin Doris Ahnen freut sich, die Musik nicht nur zu hören, sondern auch zu sehen, und erklärt die Orchester zum unverzichtbaren Bestandteil der Kulturlandschaft: „Rheinland-Pfalz ist ohne sie schlicht nicht denkbar.“ Unter der Leitung des Mainzer Generalmusikdirektors Hermann Bäumer spielen die Blechbläser aller fünf Ensembles die „Fanfare for the Common Man“ von Aaron Copland – ein mit bedacht gewähltes Signal. Denn dass der Durchschnittsbürger, der „gemeine Mann“, wie es früher hieß, diesen Tag wahrnehmen würde, ist genau die Hoffnung.
Im 19. Jahrhundert waren die Sinfonieorchester Errungenschaft und Symbol bürgerlicher Öffentlichkeit. Doch inzwischen behandelt die Politik sie häufig als entsorgungsfähigen Restbestand des abschmelzenden Bildungsbürgertums. Da lässt sich dann in Zeiten knapper Kulturetats zwar wenig, aber symbolträchtig sparen. Dass solch eine Rechnung nicht unbedingt aufgeht, zeigte in Rheinland-Pfalz vor zehn Jahren die vom damaligen Bildungsminister Jürgen Zöllner geplante Orchesterstrukturreform. Mit Demonstrationen und über 100.000 Unterschriften antwortete die größte Protestaktion in der 64-jährigen Geschichte des Bundeslandes.
Aus der Krise von 2003 gingen die Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz (mit Sitz in Ludwigshafen), das Philharmonische Staatsorchester Mainz und das Staatsorchester Rheinische Philharmonie Koblenz in personeller und finanzieller Hinsicht zwar gebeutelt hervor. Doch Fusionen und massiver Stellenabbau waren vom Tisch, vor allem in Mainz und Koblenz ging ein spürbarer Ruck durch die Orchester. Musikerinnen und Musiker, die die unerwartet starke Solidarität der Öffentlichkeit erfahren hatten, dankten es mit erhöhter professioneller Leidenschaft und freiwilligem Engagement. Von Trägheit an den Pulten war nichts mehr zu sehen, die Konzertprogramme wurden reichhaltiger und vielfältiger, anspruchsvolle Education-Programme entstanden. Inzwischen sind mit Karl-Heinz Steffens in Ludwigshafen und Hermann Bäumer in Mainz künstlerische Leiter am Werk, die neben exzellentem Handwerk auch das Gespür für die kulturelle Dimension von Musik mitbringen, gerne und gut über Musik sprechen und innovative Spielpläne realisieren. Ähnlich wie sie haben auch Daniel Raiskin in Koblenz, Uwe Sandner in Kaiserslautern und Victor Puhl in Trier ihre Ensembles vorangebracht.
„Hinaus auf die Plätze!“ Das Signal an die Öffentlichkeit verstehen auch die türkischen und türkisch-stämmigen Bürger, die den Gipfelauftakt vor dem Staatstheater mit einer stillen Demonstration gegen die gewaltsame Räumung des Istanbuler Taksim-Platzes begleiten – ein Anliegen, das auch Kulturministerin Ahnen in ihrer Ansprache würdigt. Die Mainzer Bürger insgesamt fühlen sich vor allem eingeladen und flanieren mit Genuss bei bestem Sommerwetter durch die Altstadt. „Der erste schöne Tag heut’, und dann alles ‚fer umme’ (Mainzer Dialekt für ‚kostenlos‘)!“ freut man sich. Finanziert haben den Aufwand die Orchester größtenteils selbst, den zweitgrößten Anteil macht eine großzügige Spende des Ludwigshafener Chemiekonzerns BASF aus. An 16 verschiedenen Stellen der Innenstadt spielen nun bis 18 Uhr Kammermusikensembles, und mit Ausnahme der Ludwigshafener Staatsphilharmonie, die diesen Bereich neu strukturiert, realisieren die Education-Teams an vier weiteren Stellen ein Kinderprogramm. Sogar eine Schnitzeljagd von Ensemble zu Ensemble ist im Angebot.
Der Besucher muss sich für einen Weg entscheiden: Vor dem Theater sorgen inzwischen die Blechbläsersolisten der Deutschen Staatsphilharmonie für strahlende Klänge. Um die Ecke, vor der Mainzer Kaffeemanufaktur, fesselt das Trio des (Mainzer) Philharmonischen Salonorchesters das Publikum mit Kaffeehausmusik. Auf dem Ballplatz schmiegt sich das Reed-Bulls-Saxophonquartett aus Trier in den Außenbereichen der beiden Cafés, als ob es schon immer dazu gehörte. Am Weihergarten, neben dem Schott-Verlag, spielt das Trierische Streichtrio in der „Galerie Mainzer Kunst“. Auch sonst scheinen die Spielorte gut gewählt.
In der Eisgrubschule toben die Grundschulkinder noch über den Schulhof, als um 16.00 Uhr das „Musikalische Klassenzimmer“ beginnen soll. Wenig später sitzen sie mit ihren Eltern im Musiksaal. Aus Koblenz sind Wolfgang (Jablonski) mit der Flöte und Niko(laus Maler) mit dem Fagott gekommen; ihre Vornamen prangen deutlich auf den T-Shirts. Die Beiden vollführen eine ebenso unterhaltsame wie für sie schweißtreibende Mischung aus Schulstunde, Animation und Comedy. Zirkusreif streiten sie darum, welches Instrument mehr Klappen hat und welches höher spielen kann, und holen die verschiedensten Flötentypen der Menschheitsgeschichte aus ihrem Koffer. Wenn sie dann den Eingangssatz der Kleinen Nachtmusik „für die Streicher“ spielen, wundert man sich fast, dass sie keinen Geiger aus der Hosentasche ziehen. Die Reaktionen der Kinder zeigen, wie stark sie bei der Sache sind. Nebenan in der Turnhalle ist inzwischen das Blechbläserquintett des Trierer Orchesters mit der „Geschichte vom kleinen Bären“ und dem „Kinderzirkus“ zugange.
Um 18.00 Uhr beginnt das Abendprogramm – eine gewaltige logistische Herausforderung für Veranstalter und Publikum. Verteilt auf fünf Spielstätten in der Innenstadt präsentieren die Orchester jeweils zweimal ein halbstündiges Programm. Dazwischen liegt eine Viertelstunde, in der man zu Fuß oder mit einem Shuttlebus der Mainzer Verkehrsgesellschaft den Konzertort wechseln kann. Wer rechtzeitig anfängt und die richtige Reihenfolge einhält, kann alle Ensembles erleben. Doch das setzt Kondition, Sportsgeist und Neugier voraus. Überhaupt kann man Bedenken haben, wie das Abendprogramm angenommen wird – nach all den niedrigschwelligen Angeboten des Nachmittags. Doch der Shuttlebus am Theater ist so voll, dass nur ein Eilmarsch zur ersten Station übrig bleibt.
In der geräumigen Christuskirche drängen sich die Menschen auf die Empore, setzen sich auf die Treppenstufen und stehen an den Wänden, um das Philharmonische Orchester der Stadt Trier zu hören, wie es unter Victor Puhl Verdis „Nabucco“-Ouvertüre, Mahlers „Blumine“ und den „Danzon Nr. 2“ von Arturo Márquez spielt. Am Ende applaudieren die Hörer stehend, und die Trierer Musiker, die in ihrer Heimatstadt mit dem Rücken zur Wand stehen, wirken schier überwältigt von Andrang und Begeisterung. Dann setzt sich eine große Menge zum Kurfürstlichen Schloss in Bewegung. Leider werden mehrfach Türen zum Nadelöhr, und so ist auch der Große Saal im Schloss schon voll. Aber auch stehend oder am Boden kauernd lässt sich die packende und stringente Interpretation von Beethovens 7. Sinfonie durch das Orchesters des Kaiserslauterner Pfalztheaters unter GMD Uwe Sandner genießen. Auch hier gibt es stehende Ovationen – nachdem eine Ankündigung von LMR-Präsident Stieber den Zeitdruck entschärft hat: Die nächs-te Etappe in der Rheingoldhalle beginnt zehn Minuten später.
In der Rheingoldhalle bleiben sogar einige Sitzplätze frei. Manch einer lässt die Etappe aus – vielleicht auch, weil César Francks Sinfonie in d-Moll selten auf den Konzertprogrammen steht. Karl-Heinz Steffens nimmt gerade dies zum Anlass, nicht nur über die Musik der ersten beiden Sätze zu sprechen, sondern auch über die Anfeindungen, denen der Komponist ausgesetzt war, weil er in einer Zeit deutsch-französischer Feindschaft eine Sinfonie nach deutschem Muster komponierte. Wie originell das Werk geraten ist, davon zeugt die eindringliche Interpretation der Ludwigshafener Staatsphilharmonie, die der vorgerückte Zeitpunkt leider um den verdienten langen Beifall bringt. Denn schon eilen die Menschen über die Rathaus-Plattform zum Dom – und kommen doch zu spät.
Daniel Raiskin und die Rheinische Philharmonie aus Koblenz haben schon begonnen, und die Mainzer Dommusik hat traditionell ihr eigenes Stammpublikum. Da bleiben zum Sitzen nur noch die Altarstufen im Ostchor. Wie eine sinfonische Riesenschlange wabert Leopold Stokowskis Orchesterbearbeitung von Bachs Passacaglia und Fuge c-Moll (BWV 582) durch die hallige Dom-Akustik. Peteris Vasks „Cantabile für Streicher“ mit seiner Klangflächenarchitektur aber passt ausgezeichnet hierher, und auch Mendelssohns Vertonung des 98. Psalms „Singet dem Herrn ein neues Lied“, bei der die Mainzer Domkantorei St. Martin mitwirkt, kommt gut zur Geltung. Letzte Etappe ist das Staatstheater. Das Philharmonische Staatsorchester Mainz spielt die instrumentalen Abschnitte aus Wagners „Tristan und Isolde“. Dass hier auf einem ordentlichen Theatersitz ein wenig Ermüdung aufkommt, liegt sicher nicht an der Musik, sondern am zurückgelegten Publikums-Marathon. Während beim richtigen Mainz-Marathon im Mai den Läufern selbstverständlich an den verschiedensten Ecken Getränke gereicht werden, hat hier niemand an Verpflegung gedacht. Der Blick in die Reihen aber zeigt: Es ist nicht nur das typische Konzertpublikum, sondern eine ähnlich bunte Mischung, wie sie am Nachmittag die Stadt bevölkert hat.
So liegt es am Abend schon in der Luft: Dieser Orchestergipfel ist ein großer, in dieser Dimension unerwarteter Erfolg und wird sicher nicht ohne Neuauflage bleiben. Doch es bleibt ein wunder Punkt: Trier. Dort wird gerade über die Schließung von Theater und Orchester diskutiert. Nicht nur Finanznot scheint hier am Werk, sondern auch Bequemlichkeit und selbstgefälliger Provinzialismus, die schon das Potential der inzwischen eingestellten Antikenfestspiele verspielt haben. Aber kann eine Landesregierung, der wirklich an Kultur in der Fläche liegt, hinnehmen, dass Profiorchester nur noch in der Pfalz und an der Rheinschiene residieren? Etienne Emard, Geschäftsführer des LMR, spricht von „Raubbau“ an der Kultur. „Es kann nicht sein, dass ein Theater, welches bis an die Grenzen des Möglichen Einsparungen vornimmt (...), nun eine Umstrukturierung mit solchen Ausmaßen befürchten muss.“