Eigentlich eine Steilvorlage für den Opernbetrieb: Vor gut zehn Jahren rückte die Enkelin Giacomo Puccinis endlich mit der Partitur des vierten „Edgar“-Aktes heraus, jenes Aktes also, den der Komponist beim Ringen um eine erfolgreiche Fassung des 1889 durchgefallenen Stückes schließlich komplett strich.
Eigentlich – denn der erwartete Run auf die Originalversion des zweiten Bühnenwerks eines der beliebtesten Opernkomponisten blieb erstaunlicherweise aus. Den Achtungserfolg der ersten szenischen Wiederaufführung durfte sich 2008 das Turiner Teatro Regio auf die Fahnen schreiben (die ordentliche Produktion mit José Cura in der Titelrolle ist auf DVD zu begutachten), 2016 gab es die deutsche Premiere konzertant in Dortmund und nun ist das Theater Regensburg die erste deutsche Bühne, die die vieraktige Fassung szenisch aufführt.
Man kann es den Dramaturgen und Intendanten allerdings auch nicht verdenken: „Edgar“ genießt ob seines auf den ersten Blick hanebüchenen Librettos einen denkbar schlechten Ruf, den Puccini selbst eifrig pflegte: „Möge Gott dich vor dieser Oper beschützen“, schrieb er an eine Freundin. Es kommt also auf den zweiten Blick an. Den hat Regisseur Hendrik Müller mit einigem Scharfsinn getan und verwandelt die kolportagehafte Handlung in eine Mischung aus Großstadtwestern-Melodram und US-Pulp. Die dörfliche Enge, der Edgar im Original entflieht, ist bei ihm eine düstere amerikanische Straßenschlucht. Und der „herrliche Aprilmorgen“, der im weiteren Verlauf in der verklärenden Rückschau immer wieder beschworen wird, besteht darin, dass der versoffene Titelheld nach durchzechter Nacht aus einer Bar taumelt, um sogleich über die sittsame Fidelia herzufallen. Barkeeperin Tigrana, das zweite Objekt seiner Begierde, ist aus anderem Holz geschnitzt. Im flotten Jeanskleid verhöhnt sie die frommen Kirchgänger und wird gegen diese von Edgar verteidigt. Er brennt schließlich mit ihr durch, nicht ohne vorher Fidelias Bruder Frank, der auch ein Auge auf die feurige Tigrana geworfen hat, im Duell verletzt und ein Haus in Brand gesetzt zu haben.
Marc Weegers drehbares Bühnenbild, das mit den Videoeinspielungen von Michael Lindner entfernt an Frank Castorfs Bayreuther „Route 66“-Rheingold erinnert, mutiert auf der Rückseite zum trostlosen Etablissement. Hier gibt sich Edgar ausgiebig dem Koks hin, im Geldscheinregen gedemütigt von der ihn aushaltenden Show-Sängerin Tigrana. Auf diesen Moment besinnt Edgar sich im dritten Akt, wo Regisseur Müller ihn nun endgültig und durchaus plausibel als eine Borderline-Persönlichkeit deutet. Nachdem er sich, Tigranas überdrüssig, am Ende des zweiten Aktes den Soldaten um Hauptmann Frank angeschlossen hat, inszeniert er nun seinen eigenen Heldentod. Nur um gleichzeitig der Trauergemeinde (als Mönch verkleidet, wie es das Libretto vorsieht) die dunkle Vergangenheit des vermeintlich Gefallenen zu offenbaren. Tigrana – sie hängt mittlerweile an der Nadel – besticht er mit entsprechendem Scheineknistern, die Unehrenhaftigkeit Edgars öffentlich zu bezeugen. Die aufgebrachte Menge ist bereit zur Leichenschändung, findet den Sarg aber leer. Edgar offenbart sich und richtet ein MG-Massaker an.
Ausgiebig am Sarg betrauert worden war er zunächst von Fidelia. In dieser Inszenierung war sie von ihm schwanger und weiß nach einer Fehlgeburt im vierten Akt nicht, dass Edgar noch lebt. Hendrik Müller belässt sie klug in dieser Ungewissheit und deutet die Wiedervereinigung des Paares als deren Fiebertraum. So hält Fidelia Zwiesprache mit einer beeindruckenden Videoprojektion über ihrem Krankenbett, während Edgar von der obersten Proszeniumsloge heruntersingt – auch akustisch ein gelungener Coup.
Dieses weit ausschwingende Duo ist mit das Beste, was Puccinis frühe Partitur an Musik enthält, um so rätselhafter, warum auch dieses einst der Kürzung anheimfiel. Anikó Bakonyi hatte in der wunderbaren Arie „Addio, mio dolce amore“ im dritten Akt – ein weiteres Glanzstück – noch Probleme, die wenig durchschlagskräftige mezza voce in der tiefen und mittleren Lage mit dem schnell in scharfes Vibrieren übergehenden hohen Register zu verbinden. Nun aber fand sie zunächst in ihrer Soloszene und dann zusammen mit ihrem Tenorpartner zu differenziertem, innig leuchtenden Gesang. Yinjia Gongs kraftvolle, bisweilen durchaus rollengerecht neurotisch flackernde und leicht angestrengte Bewältigung der Titelpartie verdient Anerkennung. Übertroffen wurde er allerdings von Seymur Karimovs souverän-volltönendem Frank und Vera Egorova-Schönhöfers vokaler Verkörperung der dankbarsten Rolle: Ihr runder Mezzo ist für die (vom Libretto wohl bewusst erzeugte) Carmen-Nähe der Tigrana ideal geeignet und jederzeit zu verismohafter Steigerung fähig.
Hervorragend waren der Opernchor und die Kinder des Cantemus-Chores auf die großen, von Puccini schon mit beachtlichem Sinn für effektvolle Vokalmassierungen angelegten Tableaus vorbereitet. Ebenso überzeugend sind die pointiert Stimmungen vorbereitenden Zwischenspiele. Es ist ein Glücksfall, dass für diese eminente Ausgrabung Regensburgs einstiger GMD Tetsuro Ban ans Pult des Philharmonischen Orchesters zurückkehrt. Seine wohl etwa eine Viertelstunde ausmachenden Striche tun den ersten drei Akten, in denen Puccini von der musikdramatischen Prägnanz einer „Tosca“ noch weit entfernt ist und gerne plakativ dröhnend mit Erinnerungsmotiven hantiert, hörbar gut. Gleiches gilt für seinen die Tempi straff auf Zug haltenden Zugriff, dem das Orchester mit Verve folgt und der nur selten dynamisch übers Ziel hinausschießt.
Dafür und für das Ensemble gab es am Ende berechtigten Jubel, ebenso für Hendrik Müllers furiose szenische Rehabilitation. Diese mündet im Finale leider in einen logischen Schönheitsfehler. Denn Müller belässt es nicht bei Fidelias Traumvision, sondern lässt Edgar schließlich doch noch real als gefeierten Hochzeiter in spe auftreten. Das macht nach seinem Amoklauf nicht wirklich Sinn, aber zu groß war wohl die Versuchung, den Helden von der traurigen Gestalt am Ende wieder an eben jener Straßenecke zu platzieren, an der er zu Beginn gesessen hatte – nun eingerahmt von zwei Frauenleichen…