„Keine Noten, kein Dirigent – und kein Schuhwerk“ – so erweiterte Reinhold Würth den Slogan des Berliner Stegreiforchesters bei der Übergabe des mit 15.000 Euro dotierten Würth-Preises der Jeunesses Musicales Deutschland an das junge Kammerorchester. Zuvor hatte das Ensemble den Kammermusiksaal des Carmen-Würth-Forums bespielt und sein Konzept erlebbar gemacht: Sinfonisches wieder mit Spontaneität und Improvisation zu verbinden. Würths Beobachtungsgabe zielte ins Zentrum der durchchoreografierten Konzertperformance: Etikette, Frackzwang und alte Zöpfe müssen weg. Das Stegreiforchester setzt sich keine geringere Aufgabe als die „Klassik neu zu erfinden“.
Auf dem Programm standen Exzerpte der 3. Symphonie von Brahms, natürlich nicht werkgetreu und nach Urtextausgabe gespielt, sondern als eine Musik der Verwandlungen. Die Musiker und Orchestergruppen sitzen nicht auf ihren Stühlen, sondern bewegen sich im Raum, keiner darf stillstehen, im Prinzip auch das Publikum nicht. Ein Multipler Saal ohne festes Gehölz hätte dem Charakter der Performance besser gedient. Doch das Manko wurde ausgeglichen: Der Experimentierlust des knapp 30-köpfigen Orchesters kam der großartige Klang des Kammermusiksaals des Carmen-Würth-Forums entgegen. Egal, ob die Holzbläser rechts hinten oben agierten oder sich Streicher und Perkussionisten wirr auf der Bühne tummelten – immer war der satte, dunkle Brahmsklang präsent. Kleine Abstriche gab es bestenfalls, was die Exaktheit von ein, zwei Einsätzen betraf. Doch das waren Ausnahmen, die die Regel bestätigten. Das Orchester kann ohne Dirigent. Selbst wenn man kaum Stellproben gehabt hatte, um die Brahms-Adaption den Raumgegebenheiten anzupassen.
Das Stegreiforchester ist demokratisch verfasst, Stückauswahl und Erarbeitung von Freebrahms , Freebeethoven etcetera erfolgen im Plenum. Seine Premiere erlebte es im Berliner Radialsystem: Folkert Uhde hatte Juri de Marco nach einigen Vorgesprächen das erste Podium fürs neue Konzept geboten. Daran erinnerte er auch in seiner sehr persönlichen Laudatio. Erfunden hat das Orchester schließlich eine Gruppe junger Musiker um den künstlerischen Leiter Juri de Marco. Er besorgt auch zusammen mit dem Posaunisten Alistair Duncan die Arrangements und Einrichtungen der klassischen Werke für die Besetzung des improvisierenden Kammerorchesters. „Braucht Brahms das?“, ist eine Frage, die immer wieder an die jungen Musiker gestellt wird. Die Antwort lautet: nein, natürlich nicht. Aber der klassische Konzertbetrieb braucht das. Und zwar dringend. Vorgänger fürs Konzept gibt es einige. Aus dem Sektor Jazz etwa Mathias Rüegg und sein Vienna Art Orchestra, das sich Werken von Satie und Johann Strauß angenommen hat. Oder der amerikanische Pianist Uri Caine, der höchst originell Schumann, Mahler und Bach fürs Jazzensemble adaptiert hatte. Im Sektor Klassik fällt einem sofort Friedrich Gulda ein, der sich Ähnliches vorgenommen hatte, jedoch scheiterte. Jetzt endlich glückte seinen Enkeln die Vermählung der Improvisation mit dem Werk. Dazu brauchte es nicht nur die Idee, sondern auch die jungen und schon vollendeten Musiker des Stegreiforchesters: Solisten, Ensemblespieler, Improvisatoren und Entdecker zugleich. Musikvermittlung geht allerdings in Anbiederung über, wenn man das Publikum nach dem Brahms-Finale noch zum Tanzen auf die Bühne zerrt. Aber zugegeben: Die Freude über den Würth-Preis spiegelte sich an diesem Abend zu Recht im ausgelassenen DiscoDisco-PartyParty-Finale.