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Wie viel Wirklichkeit darf es denn sein?

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Humanity and Composition beim Forum neuer Musik im Deutschlandfunk
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Nicht nur, was auf einem Festival geschieht, zuweilen bewegt auch, was mit ihm geschieht. Dem Forum neuer Musik, das der Kölner Deutschlandfunk traditionell an einem Frühjahrswochenende ausrichtet, ist dies jetzt passiert. Anlass bot das Schluss­konzert mit dem kanadischen Streichquartett Bozzini, ganz unabhängig davon, dass dessen Diskurs über „Lüge und Identität“ die Eintritts­schwelle neuer Musik merklich unterlief. Das im Niemandsland zwischen Jazz, Pop und Folklore operierende Québecer Komponisten-Gespann Joane Hétu und Jean Derome ließ seine Instrumentalisten auf dem Podium herum­spazieren, spielender- wie sprechender­weise. Anders als Goethe es einst beobachten konnte, unterhielten sich die Vier jedenfalls weniger mit sich und untereinander als jeder mit sich selbst und einem allgegen­wärtigen „bande sonore“, dem Zuspielband.

Weit mehr abgewinnen konnte das Kölner Forum-Publikum dem, was Deutschland­radio-Intendant Ernst Elitz zuvor in seinem Grußwort für den anwesen­den kanadi­schen Botschafter ausgeführt hatte. Darin bekannte sich Elitz zur Verantwortung des Senders, dem Kulturspek­trum in seiner Gesamtheit gerecht zu werden.

Gemeint war die Selbstverpflichtung der Anstalt, auch das Geschehen an der kulturellen Peripherie mit gebührender Aufmerksamkeit zu begleiten. Namentlich erwähnte Elitz die erfolgreiche Konzertreihe Forum alter Musik und, aus gegebenem Anlass, eben das von Musikredakteur Frank Kämpfer im siebten Jahr kuratierte Forum neuer Musik.

Mit anderen Worten: Die Zukunft der zeitgenössischen Musik im Deutschland­funk gewürdigt und (so darf man doch wohl hoffen und schlussfolgern) gesichert. Zweifel­los die wichtigste musikpolitische Botschaft der Forum-Ausgabe 2008.

Solche Unterstützung kann ein „Werkstattfestival“ (Kämpfer) wie das Forum neuer Musik im Deutschlandfunk gut gebrauchen, zumal es keine Trends bedient, vielmehr auch das Ungesicherte, das künstlerische Wagnis aus Überzeugung mitträgt.

In Zeiten, in denen Namen und Programme von Musikfestivals immer marktgängiger, modischer und damit nichtssagender werden, sorgte die in diesem Jahr mit „humanity & composition“ überschriebene Forum-Ausgabe für einen gleich an der headline wahrnehmbaren markanten Kontrapunkt. Vor dem Hintergrund einer zusehends durch Markt und Ökonomie formierten Gesellschaft, erscheint das Stichwort „Humanität“ plötzlich wie die Erinnerung daran, was einmal selbstverständlich war und was sich nicht nur in der Neunten oder bei Nono kompositorisch auskristallisiert hat. Tempi passati?

Durchaus, möchte man antworten. Andererseits ist es doch so – und dies zeigte auch die künstlerische Bilanz des Deutschlandfunk-Festivals –, dass der kritische, auf Nichtidentität beharrende Impuls in der Tonkunst (noch? wieder?) wach ist, auch wenn ihn niemand unter einer Überschrift wie „Humanität und Komposition“ rubriziert oder gar sein Werk damit etikettiert wissen will.

So sehr den Komponisten die Skepsis gegen die großen Worte und Gebärden zur zweiten Natur geworden ist – eine unterirdische Verbindung zu dem, was Kämpfer im Editorial als „Hauptintention“ herausstellt („Am Komponierten Entwürfe des Menschseins zu erkunden“) ist spürbar. Es heißt nur anders. „Never real, always true“ beispielsweise hat die Bonner Komponistin Charlotte Seither ihren Forum-Beitrag überschrieben, zur Uraufführung gebracht von der famosen Akkordeo­nistin Margit Kern.

Hier zugleich der krönende Abschluss eines von Intensität und Sensibilität geradezu berstenden Soloabends, der dank der Körper­spannung der Interpretin ins instrumentale Theater hineinreichte. Dass sich humanity in der composition letztlich vor allem darüber zu vermitteln hat – dies war, wie Musikwissenschaftlerin Nanny Drechsler im erstmals arrangierten Roundtable anmerkte, die greifbarste Frucht eines Wort-Diskurses, dem seinerseits anzumerken war, wie ungewohnt eine solche Thematik auch für ausgewiesene Experten ist.

Das „Never real, always true“ (Seithers Adaption von Antonin Artauds „Jamais réel et toujours vrais“) erschien denn auch hier, im nachdenkenden Wortgefecht wie im kompositorischen Zugriff, beinahe wie ein geheimes Festival-Motto.

Etwa im durch und durch hermetisch strukturierten Ensemblewerk „PRAHA: celetnà – karlova – maiselova“ des sächsischen Komponisten Jakob Ullmann, der seine Erinnerung an das Schicksal der Prager Juden in eine linien- und gestenhafte, textunverständliche Komposition übersetzte, hoch­skrupulös seinen Interpreten von der Basler Musikhochschule „jede Form von Ausdruck oder innerer Bewegung“ untersagte.

Wie sich mitteilen, ohne sich mitzuteilen?

Das Gegenbild dazu lieferte „Challumot“, die hochexpressive Musik des israelisch-palästinensischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi auf Gedichte der im Holocaust umgekommenen Selma Meerbaum-Eisinger.

Die mit der Faust komponierte, an ekstatischen Xenakis erinnernde Musik, stellt das Wort der Dichterin ins Zentrum, verlangte vom Tenoristen Gunnar Brandt-Sigurdsson die ganze Palette der Ausdrucksmöglichkeiten. Der Schmerz soll Klang werden – anders als in der mit dem Schrecken nur spielenden Klanginstallation des studierten Medienkünstlers Christoph Korn, der ein „Waldstück“ aus der Nähe Dachaus tönen und ‚vertönen‘ lässt.

Auch hier ein striktes „Never real, always true“! Nur – wie viel Wirklichkeit darf es sein? Wie viel Wahrheit muss es sein? Der Diskurs geht weiter.

Ausführlicher Festivalbericht demnächst als Videostream unter www.nmzmedia.de

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