Unfreundlich, von der kalten Seite, zeigte sich „Pfingsten, das liebliche Fest,“ in diesem Jahr. Zu den Wiesbadener Maifestspielen brachte das Merlin Ensemble Wien auch gleich ein Programm mit, das in die dunkelste Zeit des Jahres gepasst hätte. Das Gastspiel „Vom Ende der Zeit“ im Foyer des Staatstheaters hinterließ einen markanten Eindruck. Auch Helmut Oehrings Musiktheater „Agota?“ verstand zu fesseln.
Olivier Messiaens „Quatuor pour la fin du temps“, das er Anfang 1941 in einem deutschen Kriegsgefangenen-Lager bei Görlitz vollendete und zusammen mit drei Mitgefangenen uraufführte, bildete das musikalische Gerüst des Wiener Programms. Das Quartett für Violine, Violoncello, Klarinette und Klavier (in wechselnder Besetzung) hat einen direkten Bezug zur biblischen „Offenbarung des Johannes“ und beschwört auf geheimnisvolle, erschreckende oder vitale Weise deren Bilder – insbesondere dasjenige des Engels, der das Weltende verkündet. Streng ist der Inhalt, streng war auch die Anlage des Programms. Die acht Sätze waren aufgeteilt auf sieben Etappen. Dazwischen reihten sich, streng symmetrisch, von außen nach innen die Lesungen: Thomas Bernhards Gedichtsammlung „In hora mortis“ von 1957, Paul Celans Aphorismensammlung „Gegenlicht“ aus dem Jahr 1949 und – als Zentrum – sein rätselhafter Prosatext „Gespräch im Gebirg“ von 1959. Celans Aphorismen waren passend unterbrochen und unterlegt mit den lakonischen Stücken Anton Weberns für Violine bzw. Violoncello und Klavier op. 7 und op. 11. Dagegen passten zum munter-abgründigen „Gespräch“ zweier alter Juden mit seinem folkloristischen Unterton recht gut die „Rumänischen Volkstänze“ von Béla Bartók.
Mit Martin Walch als Geiger und musikalischen Leiter, Haruhi Tanaka an der Klarinette, Luis Zorita am Violoncello und Till Alexander Körber am Klavier war das Ensemble ausgezeichnet besetzt. Den Sprechpart teilten sich der langjährige Burgtheater-Dramaturg Hermann Beil mit dem erfahrenen Burg-Schauspieler Martin Schwab. Die Konzeption der Matinee stammte von Körber und Beil. Grimmiger Witz und geistreiche Paradoxien, Bitterkeit und Absurdität, unheimliche Erinnerung und Zukunftsüberdruss mischten sich in den Texten, während in der Musik neben Erschrecken, Wildheit und Staunen auch freudige Bejahung ihren Platz hatte. Dass sich im pessimistischen Textteil auch aktuelle österreichische Befindlichkeiten spiegeln, darf man vermuten. Künstlerisch beeindruckend war vor allem die überzeugende Verbindung von treffender Pointierung in Sprache und Musik mit einem stimmigen Spannungsbogen über 70 Minuten hinweg.
Nicht viel länger dauerte die Uraufführung von Helmut Oehrings Musiktheater „Agota? Die Analphabetin (Gestern / Irgendwo)“, einem Auftragswerk des Wiesbadener Staatstheaters. Hier geht es um das Schicksal der ungarisch-schweizerischen Dichterin Ágota Kristóf (1935-2011), die mit 21 Jahren nach der Niederschlagung des Ungarischen Aufstandes in die Schweiz floh, dort nur mühsam Fuß fasste und sich vor allem mit dem Französischen, ihrer „Feindessprache“, schwer tat. Stefanie Wördemanns Textbuch geht auf französische Prosatexte und frühe ungarische Gedichte Kristófs zurück. Oehring hat die Titelpartie für die vielseitige Berliner Schauspielerin und Sängerin Dagmar Manzel geschrieben, die bei den diesjährigen Maifestspielen parallel mit der Komischen Oper Berlin gastiert und in Oscar Straus' Operette „Eine Frau, die weiß, was sie will“ als hochkarätige Komödiantin gleich sechs Gesangs- und zahlreiche Sprechrollen hinter- und nebeneinander verkörpert. Oehring nennt sein neues Stück ein „vokalinstrumentales Melodram“.
Wir erleben Manzel nun, wie sie als Ágota poetische und alltägliche Texte rezitiert, mühsam einzelne Wörter lautweise artikuliert oder eindringlich-schlichte Melodien singt. Sie sitzt dabei an einem kleinen Küchentisch in einem vorgestellten ärmlichen Zimmer, kocht sich Tee, geht zum Fenster oder zum Waschbecken usw.; in ihren Worten spiegeln sich Kindheits-Erinnerungen und Alltags-Impressionen, Albträume, Fantasie-Dialoge, Sprachspiele und Überlegungen eines heimatlos gewordenen Menschen, der für sein Leben Richtung und Sinn sucht. Die Aktualität der Situation liegt auf der Hand. „Die halbe Welt sitzt auf gepackten Koffern“, sagt Helmut Oehring.
Um die Darstellerin herum sitzen das von Peter Rundel souverän geleitete Ensemble Modern und ein besonders virtuoses Instrumental-Vokal-Trio mit Marena Whitcher, Nico van Wersch und Lukas Rutzen. Dazu kommen elektronische Klangeffekte, weitere über Lautsprecher eingespielte Kristóf-Texte und zusätzliche Videoeinspielungen, die Dagmar Manzel in stilisierten Alltagssituationen in und außerhalb des Hauses zeigen, und außerdem gelegentliche Gesten oder szenische Aktionen der Musiker. Auch wenn die kompositorische und dramaturgische Konzeption bisweilen ein wenig überladen erscheint, gelingt es Regisseur Ingo Kerkhof, sie angemessen zu zentrieren. Die optischen und akustischen Zutaten lenken nicht ab, sondern werden als innerer Resonanzraum eines fesselnden Einzelschicksals erfahrbar. Der Ausklang stimmt nachdenklich.