Chemnitz pflegt seine Wagner-Traditionen mit einem ebenso originellen wie sehens- und hörenswerten „Lohengrin“ – aber fast ohne Romantik, dafür mit viel Rummel. Als Resultat ist ein Stück Welttheater entstanden, meint unser Rezensent Michael Ernst.
Rummelplatz-Romantik sieht gewiss ganz anders aus. Da wird geflirtet und geschmust, bahnen sich Liebesgeschichten an oder werden beendet. Sei es für den Moment, sei es für immer – das Auf und Ab einer Berg- und Talbahn dürfte (wie im richtigen Leben) auch im Theater das geeignete Sinnbild dafür sein.
Ein solches Monstrum aus stählernen Streben und Schienen beherrscht die Bühne im Chemnitzer Opernhaus, wo nun die ohnehin schon ansehnliche Werkpflege von Richard Wagner mit dessen Romantischer Oper „Lohengrin“ fortgesetzt wurde. Allerdings sieht da nichts nach romantischem Rummel aus, sondern viel eher nach Apokalypse. Alles trist und grau in grau, voller Müll und Verfall. Hier knutscht niemand, möchte man meinen. Hoffnung auf Liebeslust? Fehlanzeige.
Doch kaum betritt der Schwanenritter Lohengrin die Szene, er schwant natürlich in einer großen weißen Gondel herein, da ist er auch schon in Liebe zu Elsa verfallen. Geküsst wird freilich erst später. Ist in einer solchen Tristesse vielleicht doch ein Happy End möglich? Schwer vorstellbar.
Der 1850 in Weimar von Wagners späterem Schwiegervater Franz Liszt uraufgeführte und wenige Jahre zuvor in der Nähe von Dresden, in Graupa, erarbeitete „Lohengrin“ wurde in Chemnitz vom aus Andorra stammenden Regisseur Joan Antón Rechi inszeniert und vom spanischen Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo musikalisch geleitet. Als Resultat ist ein Stück Welttheater entstanden – weil klanglich absolut überzeugend und von der Regie her eine düstere Zustandsbeschreibung unserer Welt.
Dabei ist fast zu vernachlässigen, ob diese morbide Landschaft nun ein Rummelplatz war oder einer der wieder zahlreich gewordenen Kriegsschauplätze. Von der einstigen Leuchtschrift sind nur mehr die flackernden Konsonanten WNDRLND übriggeblieben, die also mal auf ein Wunder- oder Wonderland hingewiesen haben dürften. Die Botschaft ist jedenfalls klar: Wir leben in einer kaputtgespielten Welt. Kann es da noch Hoffnung für Errettung und Liebe geben, für Errettung durch Liebe gar?
Just in diesem Vergnügungspark, in dem sich schön längst niemand mehr vergnügt, wird Elsa von Brabant des Brudermordes bezichtigt. Die Vorgeschichte ist bekanntlich eine Intrige wie aus heutiger Zeit. Denn hier wie da es geht um Macht, die in diesem Fall Telramund und seine Frau Ortrud an sich reißen wollen. Die infame Idee, ein „Gottesurteil“ könne Schuld oder Unschuld von Elsa beweisen, geht aber nicht auf. Erst findet sich niemand, der gegen Telramund antreten mag, dann schwant Lohengrin, von den Gralshütern gesandt, überwältigt den Gegner und schenkt ihm das Leben.
Das Volk atmet auf, es hat sich längst einen Retter, in Wagners Libretto sogar einen Führer gewünscht. Doch die Unterlegenen lassen nicht locker, flüstern Elsa intrigant ein, sich über das Frageverbot hinwegzusetzen. Denn die ewige Liebe zwischen ihr und dem vom Gral gesandten Lohengrin ist nur von Bestand, wenn nicht nach dessen Namen und Herkunft gefragt wird.
Natürlich fragt Elsa doch – und macht damit alles kaputt, verspielt ihre Ehe, die gemeinsame Zukunft und steht am Ende in einer noch traurigeren Welt als vorher da.
Das alles hat Joan Antón Rechi ziemlich spannend, aber natürlich auch ernüchternd und beklemmend mit einer durchweg präzisen Personenführung auf die Bühne gebracht. Gewiss weckt er mit dieser Deutung mehr Fragen als Antworten, doch genau dies ist ja nicht das Schlechteste am Theater. Denn eine derart verstörende wie fesselnde Inszenierung, zumal in einem so „tristen“ Bühnenbild von Sebastian Ellrich und mit dennoch kunterbunten Kostümen von Mercè Paloma vergisst man nicht so rasch. Und auch die musikalische Umsetzung unter Generalmusikdirektor Guillermo García Calvo, einem bekennenden Wagner-Verehrer, bleibt in Herz und Ohren. Er hat die Partitur mit der Robert-Schumann-Philharmonie tief durchdrungen und die großen Bögen darin ebenso betörend gespannt wie den Reiz der kammermusikalischen Aspekte. Das Chemnitzer Orchester ist auf hohem Wagner-Niveau, die „Ring“-Pflege macht sich bezahlt, und der Chor des Hauses agiert nebst Extrachor nahezu ebenbürtig.
Vor allem aber ist dieser „Lohengrin“ in den Solopartien absolut stimmig besetzt. Gerade die beiden konträren Paare – Elsa und Lohengrin sowie Ortrud und Telramund – sind in ihrer gegensätzlichen Verschiedenheit ideal. Elsa ist eine schöne, schlanke, schutzbedürftig wirkende Frau von mädchenhafter Ausstrahlung. Cornelia Ptassek singt ihren Part ganz geradeaus, mit spielerischer Leichtigkeit, da wirkt nichts aufgesetzt, ist alles brillant. Ihr Lohengrin Mirko Roschkowski scheint beinahe noch kultivierter, besticht mit der Noblesse seines lyrischen Tenors – man hört und sieht, der kommt aus einer anderen Welt (in die er dann halt auch wieder entschwindet).
Dem steht der oft sehr ungebremst agierende Telramund von Martin Bárta geradezu brutal gegenüber, großspurig und oftmals zu laut. Stéphanie Müther als Ortrud ist ausgewogener, zwar ebenfalls kraftvoll präsent, doch sie singt und spielt auch die messerscharfe Intrigantin, die Rächerin, die unbedingt an die Macht will – und blutig scheitert. Als Raubein mit dem Wissen um seinen Machtverlust erweist sich Magnus Piontek, dessen König Heinrich nur mehr eine Pappkrone trägt, Andreas Beinhauer als Heerrufer agiert geschickt mit feinem Stimmmaterial, wird aber – als „Bauernopfer“? – beizeiten ins Jenseits geschickt.
Die musikalische Gesamtstruktur in Verbindung mit der stringenten szenischen Umsetzung macht diesen „Lohengrin“ zum Symbol einer von Verlustängsten und gar nicht mehr romantisch geprägten, auf der Kippe stehenden Welt. Das Wunderland ist abgebrannt.
- Termine: 1., 22.2., 15.3., 5.4. und 10.5.2020