Ganz so einwandfrei und barockfreundlich, wie es Staatsoperndirektor Dominique Meyer bei der Premierenfeier meinte, war die Akustik, zumindest im Parkett, dann doch nicht. Wobei das Gastorchester im hochgefahrenen Graben „Les Arts Florissants“ und ihr Gründer und Dirigent William Christie kein Problem hatten, die Klanghoheit im Saal der Wiener Staatsoper zu erringen. Ihr Part war durchweg transparent, frisch aufgespielt und raumfüllend. Dabei sehr einschmeichelnd, wenn die Stimmen zu tragen oder zu umschwirren waren, eloquent bei den knackigen Rezitativen.
Im Falle von Georg Friedrich Händels „Ariodante" aus dem Jahre 1735 arten die nicht aus. Das Stück, mit dem er es der Konkurrenz und abtrünnigen Fans noch mal zeigen wollte, ist für Barockverhältnisse ziemlich stringent gebaut. Die Szenenfolge achtet peinlich genau darauf, wer was schon oder noch nicht wissen kann. Dadurch ist das Publikum, wenn es denn aufmerksam mitliest, immer ein wenig schlauer, als es das schottische Volk, sein König oder die Opfer der Intrige auf der Bühne sind. Auch mal ein schönes Gefühl. Und die Regie muss sich nicht verrenken, sondern kann die mehr oder weniger ausschmückende Geschichte erzählen und sich um das Gefühlsleben der Akteure kümmern.
David McVicar und seine Ausstatterin Vicki Mortimer sparen beim ganzen Drumherum jedenfalls nicht. Wenn schon Staatsoperndebüt für diesen Händel, dann ein riesiger Vorhangprospekt mit Meerblick, tiefhängenden Wolken samt kleinem Strandstück, auf dem später der doch nicht vom Meer verschlungene Beinaheselbstmörder Ariodante dekorativ drapiert werden kann. Um wieder ins Leben zurückzukehren und gerade noch rechtzeitig zu kommen, um seinen treuen Bruder und seinen König daran zu hindern, sich die Köpfe einzuschlagen. Dass der wiederauferstandene Held den Ober-Bösewicht, der ihm den ganzen Ärger eingebrockt hat, nicht selbst erledigen konnte, das haben ihm Händel und sein Librettist Salvi, der die Ariost-Vorlage als Libretto zurechtgebastelt hat, nicht gegönnt. Braut und Thron mussten reichen. Obwohl dieser Herzog von Albany, Polinesso, einen Logenplatz in der Galerie der Opernschurken beanspruchen kann. So übergriffig und mit Lust beim Leute-Quälen wie ihn Christophe Dumaux spielt, bleibt nichts übrig, was zu seinen Gunsten spräche. Selbst sein maskulines Charisma, dem die Hofdame Dalinda verfallen ist, ist hier so mit direkter Gewalt versetzt, dass deren Neigung deutlich masochistische Züge hat. Davor erschrickt Dalinda selbst, als sie bemerkt, wozu sie sich hat missbrauchen lassen. Polinesso hatte nämlich von ihr verlangt, in einem Kleid der Königstochter, in der Nacht von deren Hochzeit mit des Königs Günstling Ariodante, ein Rendezvous mit ihm (Polinesso) vorzutäuschen.
So folgt auf den Jubel-Akt Nr.1 der Absturz in eine Staatskrise und persönliche Katastrophe. Um die auszulösen genügt ein Überehrgeizling mit ein paar vertauschten Klamotten und einem alternativen Fakt, den einige Leute glauben. Das reicht. Früher war eben auch nicht alles besser. Das meiste eher schlechter. Der vermeintlich betrogene Leibhaber Ariodante fragt nicht mal nach, sondern stürzt sich gleich vom Felsen. Der König will gleiches Recht (nach ja, was man so „Recht“ nennt) demonstrieren und versagt als Vater komplett. Ariodantes Bruder schließlich zieht auf den Rachepfad, weil er auch glaubt, dass Ginevra für den Selbstmord des Bruders verantwortlich ist. Und die ahnungs- und schuldlose junge Frau verfällt in den Wahnsinn. Armes Schottland!
In der Wahnsinnsszene im zweiten Akt übrigens da erhebt sich die durchweg opulente Optik der Kostümpracht des Balletts in eine surreale Alptraumhaftigkeit, die die Faszination eines eigenständigen Kunstwerkes hat und Sinn ergibt. Ginevra sieht man (und sie sich selbst auch) dabei als gebrochene Marionette und Spielball in den Händen einer dekadenten Gesellschaft. Sonst schmeichelt das Ballett vor allem mit den ausgesucht schönen Kostümen und seiner Tanzfreude, bleibt aber nur nett illustrierende Garnierung. Vicki Mortimer hat nicht nur bei den Kostümen ein glückliches Händchen, auch die übrige Ausstattung macht in ihrer düsteren Opulenz und Wandelbarkeit Eindruck, liefert jedenfalls immer eine passende Atmosphäre. Gewaltige Schlossmauern, die sich wie von Geisterhand bewegen. Durchblicke aufs Meer. Nebel, Dunkelheit - alles da, was man für schottischen Grusel braucht.
Dass es „Ariodante“ in den letzten Jahren auf die vorderen Plätze der Händelcharts gebracht hat, liegt natürlich auch an den wunderbaren Arien. Die Dichte an eingängigen Hits ist hier ziemlich hoch. Und alle kriegen was ab. Dass gerade Ariodante selbst mit dem „Scherza infida ….“ (Ergötze dich, Ungetreue …) oder dem „Dopo notte……“ (Nach schwarzer und düsterer Nacht…) Steilvorlagen für Minidramen hat, das hatte Cecilia Bartoli im Juni in Salzburg in der Inszenierung von Christof Loy exemplarisch vorgemacht. An dieses Barockshow-Niveau kommt Sarah Connolly in Wien nicht heran. Da fehlt einfach das entscheidende Quantum Verwegenheit. Aber ihre Stimme ist schön, die Koloraturtechnik sitzt und sie vermag sich zum Ende hin deutlich zu steigern. Hila Fahima als missbrauchte Dalinda und vor allem Chen Reiss als arg gebeutelte Ginevra betören mit ihren gut fokussierten, lyrischen Stimmen durchweg. Rainer Trost ist ein geschmeidig gradliniger Lurcanio und Wilhelm Schwinghammer ein solide würdiger König. Der zweite heimliche Star ist natürlich der Bösewicht Polinesso. Den spielt Christophe Dumaux als gewaltbereiten Fiesling überzeugend. Mit seiner Stimme wirkt er am Anfang etwas in der Weite des Raumes verloren, doch dann legt er zu und erreicht gegen Ende auch in Wien den phänomenalen Eindruck, den er in Salzburg an der Seite von Bartoli bereits hinterlassen hatte. Insgesamt ist die vokale Seite des Abends rund, das Orchester Spitze und der optische Rahmen dieses ersten „Ariodante“ an der Wiener Staatsoper opulent.