Das Thema wurde dreisprachig verkündet, und es ist europäisch: „Wurzeln – Korzenie – Roots“ stand über den diesjährigen Messiaen-Tagen in der Doppelstadt Görlitz Zgorzelec.
Der Verein Meetingpoint Music Messiaen hat sich längst von der bloßen Rückschau verabschiedet, aus der er hervorgegangen ist. Das schließt die Erinnerung freilich nicht aus, denn sie ist die Keimzelle dieses deutsch-polnischen Projekts, das umgehend zu einem europäischen geworden ist. Auch gegen Widerstände.
Wenn in diesem Jahr die 3. Internationalen Messiaen-Tage dennoch im Zeichen von „Wurzeln“ gestanden haben, dann wohl vor allem deswegen, um sie gründlich zu sichten, aufzubrechen und kundig zu behandeln. Die Eckdaten dürften inzwischen bestens bekannt sein: Der französische Organist und Komponist Olivier Messiaen war im Kriegswinter 1940/41 etwa neun Monate lang im Gefangenenlager Stalag VIII A am Stadtrand von Görlitz interniert, wo er unter heutzutage unvorstellbaren Umständen sein „Quatuor pour la fin du temps“ vollenden und sogar uraufführen konnte. Dieses „Quartett für das Ende der Zeit“ erklang erstmals am bitterkalten 15. Januar 1941 in der sogenannten Theaterbaracke des Lagers, Häftlinge und Wärter sollen von dieser ebenso verzweifelt wie hoffnungsvoll klingenden Musik ergriffen gewesen sein.
Nach 1945 wurde Görlitz zur geteilten Stadt und hieß auf polnischer Seite fortan Zgorzelec. Dorthin zog es im Jahre 2002 den Künstler und Theaterregisseur Albrecht Goetze, weil der ebenfalls von Messiaens Quartett tief ergriffen war und erkunden wollte, wo diese Musik entstanden ist. Goetze inspirierte mit seiner Faszination zahllose Menschen, um das einstige Lagergelände nach und nach wieder zugänglich zu machen, es mit Informationstafeln und Kunstwerken auszugestalten, den nebenan befindlichen sowjetischen Soldatenfriedhof von seiner Verkommenheit zu befreien und obendrein den Anstoß für das 2015 nach nur elfmonatiger Bauzeit eröffnete Europäische Zentrum Erinnerung, Bildung, Kultur zu liefern.
Allein diese Vorgeschichte ist Stoff genug für ein ganzes Buch, das europäische Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verknüpft. Seit dem 15. Januar 2008 erklingt Messiaens Quartett wieder alljährlich nahe dem Ort seiner Entstehung und Uraufführung, zunächst in einem Zelt, seit der Eröffnung des Europäischen Zentrums in dessen Foyer. Seitdem ist die Vorstellungskraft des hier warm und trocken sitzenden Publikums noch stärker gefragt, wie es wohl im Winter 1941 gewesen sein mag, als ausgehungerte, nur dürftig gekleidete Musiker und Zuhörer aus vielen Teilen Europas diese Uraufführung erlebten.
Spürbare Ergriffenheit hat sich aber auch dieses Jahr wieder eingestellt, als die südkoreanische Geigerin Hae-Sun Kang, die französische Pianistin Marie Vermeulin, der aus Strasbourg stammende Cellist Marc Coppey sowie der slowakische Klarinettist Martin Adámek Messiaens Quartett aufgeführt haben. Sie verbanden diesen kammermusikalischen Meilenstein des 20. Jahrhunderts mit der polnischen Erstaufführung von „Stalag VIII A“, einer Komposition von Messiaens 1947 geborenem Schüler Tristan Murail. Nur gut zehn Minuten kurz, ließ dieses Stück doch die unmenschliche Kälte des Lagers anklingen, das Ausgeliefertsein, hier und da ein letztes Aufbäumen von Hoffnung, nahezu grundlos, dann wieder eine elegische Hingabe an die Ausweglosigkeit …
Attacca ging es von diesem Stück ins Quartett von Messiaen hinein, die Grundtöne, die Rhythmik, sogar einige Akkorde verlangten geradezu danach. Man sollte sich die Namen dieses Ensembles, das Murails Stück zum Messiaen-Festival 2018 in La Grave uraufgeführt hat, gut merken; ein innig perfektes Zusammenspiel und betörende Virtuosität mischen sich hier zu einem überzeugenden Klangzauber.
Die Internationalen Messiaen-Tage Görlitz Zgorzelec sind längst auf gutem Wege, sich in der Festivallandschaft fest zu etablieren. Mit Sarah Weinberg haben sie eine profunde Kennerin und Netzwerkerin zur Künstlerischer Leiterin erkoren, die sich für den dritten Jahrgang ein teils überraschendes, aber stets stimmiges Programm mit dramaturgischen Verbindungen zu anderer Musik sowie zu weiteren Genres erdacht hat.
Wer hätte etwa Schuberts „Winterreise“ im Kontext zu Messiaen und Gefangenenlager erwartet? Angekündigt war dies hier aber als „interkulturelle Neuinterpretation“ durch Maximilian Guth und sein Asambura-Ensemble, das persische Klangwelten in die Schubertsche Fremdheit mischte und so einen ganz neuen Kosmos aufgetan hat.
Verblüffend auch ein sogenanntes Nachtschwärmerkonzert mit Ragtime-Musik, die auf den ersten Blick doch so gar nichts mit Messiaen zu tun hat. Schlüssig wird dies jedoch gleich in doppelter Hinsicht: Zerrissene Zeit, „ragged time“, hat natürlich auch den Komponisten und seine Mitgefangenen umgeben und ihn schließlich zum „Ende der Zeit“ geführt. Hinzu kommt an diesem Ort der Gedanke an die einstige Blüte des Ragtime auch in Europa, gerade in Polen – bis jede Art von Jazz durch die deutschen Nazis verboten und unter Strafe gestellt worden ist.
Bestens aufgehoben in dieser schillernden Programmatik war auch Mikis Theodorakis, der ja eigens aus seiner griechischen Heimat nach Paris gezogen ist, um bei Messiaen zu studieren – und unter der Militärjunta selbst schlimmste Erfahrungen mit Folter und Lagerhaft machen musste. Die Berliner Sopranistin Johanna Krumin wartete mit ihrem Projekt „Echowand“ auf und setzte Lieder von Theodorakis in Bezug zu Ravel und Messiaen.
In einem weiteren Liederabend bettete Wallis Giunta auch Dukas und Debussy sowie selbst Wagner und Britten um Messiaens Musik. Stimmig? – Mehr noch, überzeugend, denn Olivier Messiaen ist aufgewachsen in einer literarischen Familie, wo insbesondere die jahrzehntelangen Shakespeare-Übersetzungen seines Vaters eine enorme Rolle gespielt haben und den späteren Komponisten ebenso beeinflusst haben wie das französische Liedgut, die klaviertechnischen Ansprüche und nicht zuletzt die magische Welt der Oper.
Bekanntlich war Messiaen zudem der Natur äußerst zugewandt. Darauf stimmte bereits das Eröffnungskonzert dieser Messiaen-Tage ein, das von der Sinfonietta Dresden und Leitung von Jan Michael Horstmann in Kompositionen von Karoline Schulz, Carola Bauckholt und Giacinto Scelsi Naturklänge hervorzauberte und damit die von Messiaens adaptierten Vogelstimmen „Oiseaux exotiques“ umgab.
Neben Führungen und Vorträgen, die schon traditionell zu den Messiaen-Tagen gehören und sich wiederum mit Themen wie „Görlitz unterm Hakenkreuz“ und „Zwangsarbeit in Görlitz“ befassten, ging es in einer Podiumsdiskussion um Grenzidentitäten, gab es einen Musikworkshop für junge Leute und wurde – ebenso wie Kirchenräume und Museen – eine Galerie ins Festival integriert. Die zeigt Arbeiten von Armin Mueller-Stahl, dessen Multitalent als Schauspieler, Musiker und Autor auch die Bildenden Künste umfasst. „Der wien Vogel fliegen kann“ ist zugleich Titel der Ausstellung und eines kräftig illustrierten Gedichts. Ausdrücklich für Görlitz Zgorzelec hat sich der Meister auch an Messiaen-Porträts herangewagt.