Man fieberte mit. Wofür man noch nicht einmal Kölner sein musste. Schadete freilich auch nicht, wenn es so war. Man freute sich einfach, dass diese gebeutelte Stadt, in der so vieles versinkt – das Stadtarchiv im bröseligen U-Bahn-Untergrund, die Oper in einer etatlöcherreißenden Permanent-Baustelle, jüngst der 1. Fußball-Club in der Zweitklassigkeit –, man freute sich, dass diese Stadt, offenbar doch noch groß denken, groß handeln kann. Freute sich mit und für den „Leitungsstab“ der Oper Köln, spürte den erhöhten Pulsschlag ihres Dramaturgen Georg Kehren, wenn dieser, nicht ohne Stolz, vorrechnete: „Nach 53 Jahren wieder zurück am Ausgangspunkt!“
Ein Nimbus
Stimmt! Nachdem das Monstrum von einem Musiktheater in den letzten Jahren immer wieder andere Bühnen gesehen und herausgefordert hatte zu spektakulären Raumkonzepten, eventistischen Surround- und Bühneneffekten, überhaupt zu bilderflutiger Opulenz – jetzt, nach all diesen Hommages für einen ureigentlich Kölner Komponisten war dessen opus summum wieder am Uraufführungsort angelangt. Wenngleich auch nicht im Opernhaus am Offenbachplatz, wo dieses „unaufführbare“ Stück Musiktheater im Februar 1965 herauskam – nach ebenso peinlichem wie unendlichem Hin und Her, nach einem Eiertanz ohnegleichen, was den Komponisten beinahe um den Verstand gebracht hätte.
Und jetzt? Schien es irgendwie günstig und verlockend zu sein, im Bernd-Alois-Zimmermann-100-Jubiläumsjahr einerseits, im Rahmen des „Acht Brücken“-Festivals andererseits die Kölner Not als Kölner Tugend auszulegen, das sogenannte „Staaten-Haus“ im Deutzer Messegelände als Ort der Wiederbegegnung mit einem inkommensurablen Werk der Musiktheatergeschichte auf- und auszurüsten. Denn das sind ja „Die Soldaten“: „Eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der Kölner Oper!“ (Georg Kehren). Ein Stück aus der Hand eines Riesen für solche, die an ihm wachsen wollen. Alles war danach. Der Kraftakt selbst, die Erwartung auf ihn hin sowie der Respekt vor dem Werk, überhaupt die Sorgfalt, mit der man das Ereignis sekundierte. Selten (um nur dies zu nennen) hatte man ein so qualitativ hochstehendes Programmheft in den Händen gehalten. Es gibt eben Stücke, die transportieren ihren Nimbus gleich mit.
Und dann kam die Aufführung – und spaltete das Publikums-Material in kontrollierter Kettenreaktion. Letzteres übrigens platziert auf ziemlich harten, ziemlich unbequemen Drehstühlchen, die hier als Sitzplatz offeriert worden waren. Bis die Lust an diesen Dingern im Verlauf von mehr als zwei Aufführungsstunden verflogen war, drehte man sich folgsam immer wieder vor und zurück um die eigene Achse, um Geschehnisse in den Blick nehmen zu können, die die Regie in einer Art umlaufender 360-Grad-Galerie angerichtet hatte.
Ein Nebeneffekt
Man muss kein Prophet sein, um zu erraten, wie es zu einem solchen Arrangement kommen konnte. Jedenfalls nicht dadurch, dass Carlus Padrissa von der katalanischen Theater-Gruppe La Fura dels Baus sich ausführlich mit der Partitur, gar mit den Absichten des Komponisten befasst hätte. Andere Regisseure mögen es so halten – Padrissa sieht hierfür weniger Anlass. Immerhin war der Komponist der „Soldaten“ in Sachen szenischer Gestaltung tatsächlich ausgesprochen knapp, wenn nicht knurrig aufgelegt, eingestellt. Bernd Alois Zimmermann: „Ich persönlich sehe kein Bühnenbild bei dem Stück außer Menschen, die vor schwarzen Abgründen des Seins stehen, das sie aufnehmen wird, mit welcher Kraft auch immer sie sich dagegen wehren.“ So nachzulesen im Programmheft.
Plüsch und circumstances
Eine mehr existenzialistische Sicht, die „Oper“ nicht mit „Ausstattung“ verknüpft, sondern eher schon mit Muster-Strafprozess, mit einem Spiegel auch, in dem sich Menschen vor schwarzen Abgründen (wieder)erkennen. Solches vermittelt dieses monströse Kunstwerk ziemlich permanent: De te fabula narratur/Von Dir ist die Rede! „Die Soldaten? Das sind wir!“ war eben eine weitere, im Prinzip bedenkenswerte dramaturgische Erkenntnis, die in der historisierenden Ausstattungs- und Inszenierungsmanie freilich chancenlos war. Zusammen mit seinem Kostümbildner Chu Uroz, seinem Bühnenbauer Roland Olbeter hatte Padrissa den 16 singenden, zehn sprechenden respektive tanzenden Darstellern weitgehend Military-Look des 19. Jahrhunderts verordnet, Lametta, Orden, im Fall der Damen viel Plüsch und circumstances.
Dergleichen aufgebrezelt hatte sich das darstellende Personal auf die umlaufende Galerie oberhalb von Publikum und Orchester zu verteilen, auch etliche Laufarbeit zu leisten. Viel Platz blieb da nicht. Wie auch, war die Entscheidung für solchen Parcours natürlich irgendwie abgeleitet aus der „Kugelgestalt der Zeit“, der gerade im Premieren-Vorfeld viel zitierten, ventilierten, strapazierten Zimmermann-Zeit-Metapher. Auch bis zu Carlus Padrissa mochte sie sich herumgesprochen haben: Alles rund! – Klar, für ihn hatte dies den schönen Nebeneffekt, die Rückwand als perfekte Projektionsfläche fürs Videozuspiel nutzen zu können, worauf eine Regie, die etwas auf sich hält, heute nur ungern verzichtet. Padrissa machte denn auch ausführlichen Gebrauch davon. Da waren Flammen, die züngelten, Leiber, die sich übereinander türmten, am Ende ein Riesenquast, der herumfuhr und die Farbe (Blut! Blut!) auslaufen ließ. Ach, wir hatten verstanden!
Ein Blitz
Dass dafür – „Wenn Kugel, dann Galerie!“ – auch ein Preis zu zahlen war, machte sich weniger bei den hervorragenden Solisten (an erster Stelle zu nennen Emily Hindrichs als Marie, Martin Koch als Desportes) als in den Ensembleszenen bemerkbar. Bereits das Soldaten-Tableau im Ersten Akt geriet textunverständlich, blieb diffus. Kein Wunder: Tiefe war eingetauscht durch Fläche. Im Finale substituierte die Regie den Atomschlag dann durch den Kollektiv-Selbstmord der Soldaten; das Ausleuchten des Publikums davor nicht mehr als ein Theatereffekt, Wirkung ohne Ursache. Anders als bei der Uraufführung 1965 waren „Wir“ von Anfang an ja aus dem Schneider.
Dass der Sieg des Inszenatorischen über die Idee am Ende dann doch nicht so vollständig geriet, war einem anderen Blitz zu danken, der an diesem Abend ins Staaten-Haus eingeschlagen war und zwar in Gestalt von 100 Musikern des Kölner Gürzenich-Orchesters, darunter zehn Schlagzeuger, einer fünfköpfigen Jazzcombo, als Harfen, Cembalo, Celesta, Klavier, Orgel – und im Zentrum dieses fortwährend kreischenden, schlagenden, rüttelnden Monstrums, gewissermaßen im Auge des Klangsturms, die ordnende Hand von Francois-Xavier Roth. Er war es, der an diesem (für die Oper Köln) denkwürdigen Abend Fäden und Zügel in der Hand behielt. In ihm hatte die Aufführung ihren ruhenden Pol, die personifizierte Umsicht. Nicht von ungefähr schien es uns, als stünde Roth für die Dauer dieser ganz vorzüglichen Aufführung auf den Schultern des Komponisten – und wir auf seinen. So hatten wir am Ende, was wir brauchten, was wir uns erhofften: Fantastische Rundumsicht.