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Louis Andriessen: De Materie Musiktheater mit dem Ensemble Modern Orchestra, Regie Heiner Goebbels Kraftzentrale Landschaftspark Duisburg-Nord, 2014. Foto: © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale, 2014
Louis Andriessen: De Materie Musiktheater mit dem Ensemble Modern Orchestra, Regie Heiner Goebbels Kraftzentrale Landschaftspark Duisburg-Nord, 2014. Foto: © Wonge Bergmann für die Ruhrtriennale, 2014
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Zivilgesellschaft und Knochenmühle – Zur Eröffnung der RuhrTriennale mit Strawinsky und Andriessen

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Mit der Materie ist das so eine Sache. Im wirklichen Leben konkurriert sie bevorzugt mit der Energie. Bezüglich des Musiktheaters handelt es sich bei „De Materie“ um das erste Werk, mit dem das Mitte der 80er Jahre eingeweihte neue große Theater in Amsterdam, das nun die Nationaloper und das Nationalballett der Niederlande beherbergt, für internationale Aufmerksamkeit sorgen konnte.

„De Materie“ entstand unter wesentlicher Mitwirkung des texanischen Slow motion-Spezialisten Robert Wilson und wurde von Louis Andriessen komponiert. Diese Vokabel – abgeleitet vom lateinischen componere („zusammensetzen, -legen, -stellen oder –bringen) trifft auf den Text und die Musik der 1989 uraufgeführten Arbeit in jeder unmittelbaren Hinsicht zu. Zum Auftakt der RuhrTriennale 2004 hat sich deren Intendant Heiner Goebbels nach einem viertel Jahrhundert erstmals wieder an die zwischenzeitlich im schwarzen Loch des Vergessens verschwundene „Materie“ erinnert und die vierteilige Oper in die Industriebrache Landschaftspark Duisburg-Nord und dort – wie beziehungsreich! – in die Krafthalle gebracht. Sie liegt nur zwanzig Autominuten von der holländischen Grenze entfernt. Wenn kein Stau angesagt ist.

Unterm Stichwort der Materie arrangierte das Libretto des Komponisten Texte und Episoden aus verschiedenen Ecken der Historie, vorwiegend der des Landes. Der Begriff meint – auch hier – zunächst ganz allgemein Stoff, Thema oder Bauholz, dann in weiterem Sinn auch Ursache. Bei den Philosophen und Physikern steht er von alters her für den Grundstoff aller Dinge dieser Welt, unabhängig von ihrer Erscheinungsform. Gerade letzteres öffnete der Inszenierung ein weites Feld und ermöglicht dies nun, nachdem das Stück erstmals über die Landesgrenzen hinausgelangt ist, neuerlich. Und zwar auch wieder im unmittelbaren Sinn des Worts. Denn für den ersten Akt ließ der Ausstatter Klaus Grünberg so etwas wie ein Feld- und Zeltlager auf die sehr tiefe und breite Spielfläche installieren, über der mittelgroße Luftschiffe schweben. Auch über der Zuschauertribüne. Von Links singt ein Konvent von Deputierten die wichtigsten Essenzen der gegen das römisch-deutsche Reich und die spanische Krone gerichteten Niederländischen Unabhängigkeitserklärung von 1588. Von der rechten Seitenempore mischt sich ein Kanzelprediger ein, dessen Rhetorik den weiten Luftraum genießt. Ein erratisch schönes Bild eröffnet sich in der surrealistischen Landschaft des zweiten Akts: Auf der vordersten von vielen einfachen, tief gestaffelt aufgestellten Sitzbänken zelebriert Hadewjich, eine Nonne des dreizehnten Jahrhunderts, ein hoch erotisches und durchaus körperbetontes Liebesgedicht. Ihm wurde nur noch andeutungsweise die mystischen Anbindungen der vergeistlichten Liebe zum Religionsgründer belassen: „Ich begerte min Lieb in vollem Masze zu genieszen, Ihn zu erkennen unde zu kosten, sine Menschheit mit der minen zu vereinigen unde darin zu verharren, stark zu sin unde stand zu halten, aufdasz ich Ihm volstendiglich in allem … Genüge thäte“. Ganz in dunkles Tuch gehüllte Statisten formieren sich hinter der weit ausholenden Ariensängerin zu Säulen, Kapuzenplastiken oder sonstigen kleinen Monumenten – im Prinzip uniform und doch jeweils ein bisschen individuell. Aufs weite Feld der in den Industriekunstraum geholten Natur führen Grünberg und Regisseur Goebbels mit dem Beginn des vierten und letzten Akts: Hundert Schafe und ein Schäfer aus dem Raum der Landeshauptstadt wurden aufgetrieben und verbreiten zu dem in hohem Maß von den nordamerikanischen Minimalisten Philip Glass, Terry Riley und Steve Reich inspirierten Tonsatz stoisch-bukolische Ruhe.

„De Materie“ markiert einen Wendepunkt im Schaffen von Louis Andriessen, der in den 60er Jahren zu den Betreibern einer linken Blaskapelle gehörte (man hört die Erbschaft dieser Zeit noch heute in der „Materie“-Musik). 1969 wurde man auf ihn und Harry Mulisch durch das auf „Geschichtsbewältigung“ gerichtete Musiktheaterprojekt „Reconstructie“ aufmerksam. 1973 präsentierte er mit „Il Duce“ eine politisch konnotierte elektronische Musik. Erst recht politisch gemünzt waren Orchesterarbeiten wie die keineswegs heimatkünstelnde Symfonieen der Nederlanden oder die syndikalistische Workers Union. Ende der 80er Jahre aber vollzieht sich ein Paradigmenwechsel in den Kunst- und auch in den Lebenskonzepten einer überwiegend nicht sonderlich streng idealistisch-marxistisch, sondern eher pragmatisch geprägten holländischen Linken.

Eingeschrieben sind Andriessens Szenenfolge als Kontrast zur Freiheitsdeklaration eine Bauanleitung für die Handels- und Kriegsschiffe ums Jahr 1600 und Sentenzen von Gorlaeus‘ zur Frage der endlichen bzw. unendlichen Teilbarkeit der Materie. Musikalisch-kompositorisch stützt sich dieser Teil des Werks auf Anlehnungen an das Präludium Es-Dur aus dem ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers von Bach, das die alten Formen Toccata und Ricercare kombinierte, und die mittelalterliche Melodie L’homme armé, die Mess-Kompositionen der altniederländischen Meister Jacob Obrecht und Josquin de Préz zugrunde liegt. Des Weiteren erörtern Textpassagen von und zu Piet Mondrian den Perfektionsgrad der graden Linie im Unterschied zur Kreislinie. Zu ihnen treten, anspielend auf den Tanzenthusiasten Mondrian, zwei Stepptänzer hinzu (höchst virtuos: Gauthier Dedieu und Niklas Taffner). Schließlich gedenkt die mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Chemikerin Marie Curie ihres durch einen Verkehrsunfall ums Leben gekommenen Mannes Pierre. Auch diese elegische Szene wurde durch eine von den Bläsern dominierte, höchst gestische und immer wieder hörbar querständige Musik ausgezeichnet, die Peter Rundel tadellos dirigiert. „De Materie“ hätte durchaus verdient, in den Kanon der bedeutenden europäischen Opern in der Ära der Postmoderne aufgenommen zu werden.

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In scharfem Kontrast zur Andriessen-Musik vom Ende des kurzen heftigen 20. Jahrhunderts wurde die berühmteste vom Anfang der Epoche aufgeboten. Als Vorprogramm zur disparaten Betönung von Episoden aus dem Leben der Zivilgesellschaft präsentierte Romeo Castellucci eine Installation zu Igor Strawinskys „Le Sacre du printemps“. Die Musik kommt aus den Lautsprechern – taff und prägnant. Am Plafond der Gebläsehalle wurden Schienen montiert und auf denen bewegen sich Kästen bzw. Tonnen, die alsbald feines staubiges Granulat unter sich lassen. Wie den Einblendungen gegen Ende der Perfomance zu entnehmen war, handelte es sich um Knochenmehl von etwas mehr als 70 Rindern, das als landwirtschaftlicher Dünger Verwendung findet. Die dem Strawinskyschen Ballett zugrunde liegenden „Bilder aus dem heidnischen Russland“ mögen in der aktuellen Anwendung so russisch wie heidnisch geblieben sein – die Herkunft der Rinder wurde eben so wenig deklariert wie das Ziel der Kästen, die acht Malocher in Schutzanzügen mit dem zur Erde gerieselten Spezialmehl füllen . Dazu quält sich ein nicht enden wollender, von Motorengebrumm verunreinigter, Terzquartakkord. Vielleicht sollte man doch endgültig Vegetarier werden.

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