Im „Sommer unseres Missvergnügens“ anno 2020 sorgten allein die Salzburger Festspiele für einen kulturpolitischen Lichtblick: Im Schachbrettmuster platziert, ließ man dort Anfang August die so modifizierte Anzahl Zuschauer in den geretteten Teil der ursprünglich zum Einhundertsten geplanten Vorstellungen. „Cosí fan tutte“ und „Elektra“ wurden so zu einem Triumph von Mut und Entschlossenheit über das Virus und Unsicherheit im Umgang damit. Nachahmerfolgen hatte das leider – trotz der Aufrüstung der Opernhäuser in Sachen Hygiene – weder in Österreich, noch in Deutschland. Der Erfolg tat nichts zur Sache, auf Zeit dicht gemacht wurden die Häuser trotzdem.
Jetzt mussten auch in Salzburg die Osterfestspiele zumindest ihren angestammten Termin räumen und wurden kurzerhand in den Herbst verlegt. Die seit 2012 von Cecilia Bartoli geleiteten und nachhaltig in ihrer Barockausrichtung profilierten Pfingstfestspiele hatten jedoch nicht nur zwei so starke Anwältinnen der Kunst wie ihre italienische Chefin und die Langzeitfestspiel-Präsidentin Helga Rabl-Stadler, sondern auch das Glück der endlich zurückweichenden Herrschaft des Virus auf ihrer Seite. So gab es einen Triumph auf der Bühne und in dem wiederum im Schachbrettmuster besetzten Zuschauerraum. Und das sogar im wahrsten Sinne des Wortes: Mit Georg Friedrich Händels (1685-1759) frühem Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno – zu deutsch Der Triumph von Zeit und Erkenntnis aus dem Jahre 1707. Vollständig müsste es eigentlich weiter heißen: über die Schönheit und das Vergnügen. Damit wären dann sämtliche allegorischen Akteuere erwähnt, die zu Händels bereits in jungen Jahren genialisch perfekter Musik einen Streit austragen, der zum Kapitel der allgemein gültigen Lebensweisheiten gehört. Der Schönheit (Bellezza), die sich in der Jugend auf einen Pakt mit dem Vergnügen (Piacere) einlässt, dämmert mit der Zeit die Erkenntnis, dass es das allein wohl nicht ist. Im Stück kommt sie durch die Einwendungen von Zeit (Tempo) und Erkenntnis (Disinganno) der Wahrheit des Lebens ein Stück näher.
In Robert Carsens Neuinszenierung verbünden sich der wie ein würdevoll bestimmender Priester auftretende Charles Workman (Tempo) und der im Outfit eines modernen Therapeuten daherkommende Counter Lawrence Zazzo (Disinganno) gegen die beiden vergleichsweise farbenfroh bunt und so lebendig wie energisch agierenden Damen mit den Namen Piacere und Bellezza. Die erste ist Cecilia Bartoli im roten Hosenanzug. Die zweite ist Mélissa Petit mit all der strahlenden vokalen Leichtigkeit, die jugendliche Lust am Vergnügen beglaubigt.
Bei Carsen war diese Bellezza die Gewinnerin eines Castings und gehörte zu Beginn zu einer Schar junger Leute, die sich vor drei prominenten Juroren beweisen mussten. Das dazu gehörige, perfekt gedrehte Video (hinter rocafilm stehen die österreichischen Filmemacher Carmen Zimmerman und Roland Horvath) würde auch zum Werbefilm für Salzburg taugen. Acht von Rebecca Howell mit Witz gleichermaßen auf Barock wie auf Rock choreographierte Paare treten nicht nur als Ensemble auf, sondern posen auch einzeln. Schließlich will hier jeder gewinnen. Am Ende liefern sie alle den wirbligen Hintergrund für eine Show. Bartoli als Piacere ist die Mentorin und Agentin. Sie bindet die Bellezza sogar per Vertrag an sich. Bei der Show lässt sie regelrecht die Post abgehen – samt Discokugeln und Kurzaffäre Bellezzas mit einem attraktiven DJ. Natürlich wird das immer wieder unterbrochen. Die Szene friert ein, das Licht verändert sich ins düster Dräuende und die Herren Tempo und Disinganno mahnen während dieses Innhaltens die Vergänglichkeit von äußerer Schönheit und die Bedeutung der inneren Werte an. Natürlich behalten sie letzten Endes die Oberhand. Bellezza sieht sich in einer eindrucksvollen Vision sowohl als junges Mädchen und als alte Frau. Zur Weisheit des Lebens gehören eben nicht nur Schönheit und Vergnügen, sondern auch genauso das Wirken der Zeit und die daraus folgende Erkenntnis für jeden. Dass zu denen auch die Zuschauer gehören, daran bleibt bei Carsen kein Zweifel, denn die werden einige Male mit klarer Absicht auf einem Riesenspiegel auf der Bühne selbst sichtbar.
Carsen nimmt das Oratorium gekonnt als Musiktheater und liefert so zur szenischen Opulenz und perfekter Personenführung zwischendrin mit einem Augenzwinkern auch mal den mahnend erhobenen Zeigefinger. Dazu kommt musikalischer Glanz für den im Graben Cecilia Bartolis Spezialorchester Les Musiciens du Prince-Monaco mit Gianluca Capuano am Pult sorgen. Die Musiker tragen die Protagonisten gleichsam so auf Händen, dass die alle ihre Vorzüge entfalten können. Die Bartoli hat natürlich ihre gefeierten Koloraturauftritte, fasziniert aber besonders dann, wenn sie etwa mit dem berühmten „Lascia la spina“ die Welt auf eine Weise still stehen lässt, mit der gerade Händel immer wieder verblüfft. Mélissa Petit wird für ihre unangestrengte Leichtigkeit ebenso wie für die Gestaltung der empfindsamen Einsicht ins Vergängliche gefeiert. Lawrence Zazzo begeistert mit tadelloser Diktion ebenso wie Charles Workmann.
Außer Zazzo gehören sie alle auch zu den Protagonisten, die in einer konzertanten Aufführung am Folgetag dem Namensgeber des Hauses für Mozart mit dessen La clemenza di Tito huldigen. Workmann verleiht der Titelpartie des wegen seiner demonstrativen Güte in arge Bedrängnis geratenen Tito eine menschlich anrührende Dimension. Cecilia Bartoli räumt natürlich in der Hosenrolle als Sesto ab. Der treue Freund, der wider Willen zum Verräter wird, ist bei ihr in der richtigen Kehle – so wie sie innere Zerrissenheit glaubhaft macht, provoziert das allemal Szenenapplaus. Das schafft auch Anna Prohaska, die schnell in die Ambivalenz der auf Rache versessenen Vitellia hineinwächst. Mélissa Petit ist als Servilia der pure Luxus. Lea Desandre als jungenhafter Annio ebenso überzeugend wie Peter Kálmán als sonor machtvoller Publio. Vor den wechselnden Prospekten mit römisch imperialer Architektur ist auf der Bühne der Bachchor Salzburg platziert. Das Orchester darf diesmal, wiederum unter Gianluca Capuano, die musikalische Weisheit von Mozarts Spätwerk auch optisch sichtbar entfalten.
Für das Programmheft hat Cecilia Bartoli eine sehr persönliche und anrührende Liebeserklärung für ihre Heimatstadt Rom beigesteuert. Ihr aktuelles Programm unter dem Motto ROMA ÆTERNA ist es auch.