Manch ein Veranstalter dürfte von diesen Zahlen nur träumen: 153 Veranstaltungen an 43 Spielstätten, eine Auslastung von 90,25 % bei einem Karten-Angebot von 118.000, 99,69 % Eigenfinanzierung aus Eintritts- und Sponsorengeldern. Auch beim diesjährigen Rheingau-Musik-Festival war der Zuspruch ungebrochen.
Und obwohl natürlich ein großer Anteil auf populäre Klassik-Programme, leicht bekömmliche Jazzformate und Kabarett-Veranstaltungen entfiel, so gab es unter den ambitionierteren Programmen auch eine lebende Tonsetzerin als „Composer-in-Residence“ zu erleben: Lera Auerbach, 1973 im russischen Tscheljabinsk geboren, seit 1991 in den USA lebend, aber schon seit etwa 2005 als Pianistin und Komponistin auch in Deutschland recht begehrt.
Lera Auerbach
Das Festivalmagazin beschreibt Lera Auerbach, die auch schriftstellerisch und als bildende Künstlerin arbeitet, als „Universalgenie im klassischen Sinne“ und „Künstlerin mit unerschöpflicher Kreativität und unbedingtem Ausdruckswillen“. Dass dieser unbedingte Ausdruckswillen auch zum Problem werden kann, zeigte Auerbachs Auftritt als Pianistin in Mozarts Klavierkonzert Nr. 20 d-Moll (KV 466) mit dem Münchener Kammerorchester unter Alexander Liebreich. Der Dirigent orientierte sich am durchsichtigen Klangideal der historischen Aufführungspraxis, Auerbach hingegen zelebrierte Virtuosentum in rauschenden Akkordflächen und stilistisch weitab liegenden Kadenzen in Richtung Rachmaninow. Das ging über zwei Sätze einigermaßen gut, mündete aber im 3. Satz („Allegro assai“) in ein gehetztes Presto, das von Mozart nicht allzu viel übrig ließ. Liebreich und die Münchener taten nach der Pause alles, um die Scharte auszuwetzen, und präsentierten im Friedrich-von-Thiersch-Saal vor einem faszinierten Publikum eine wunderschön durchhörbare, klangbewusste und spannende Aufführung von Mozarts „Linzer Sinfonie“ (Nr. 36, KV 425). Ob die Münchener Musiker zu Beginn des Abends die idealen Interpreten von Auerbachs Komposition „Eterniday“ waren, darf man bezweifeln. Hier trug der Spannungsbogen nicht recht über gut 20 Minuten, und es blieb unerfindlich, wie hinter dem teils schwermütigen, teils existentialistischen Gestus eine „Hommage an W.A. Mozart“ zu erkennen wäre.
Wesentlich gleichgestimmter zeigte sich das Interpreten-Trio Daniel Hope (Violine), Alban Gerhardt (Violoncello) und Lera Auerbach (Klavier) im Kammermusikprogramm auf Schloss Johannisberg. Hier erklangen Auerbachs Sonate für Violoncello und Klavier op. 69, das Klaviertrio Nr. 2 („Triptych: The Mirror with Three Faces“) und die Sonate für Violine und Klavier Nr. 3. Man erlebte, was Frieder Reininghaus 2011, gemünzt auf Auerbachs Oper „Gogol“, einen „Wärmestrom des interessant aufgerauten Wohlklangs“ genannt hat. Ich bin allerdings geneigt, dieser kritisch gemeinten Charakterisierung hier etwas Positives abzugewinnen. Die Kammermusik wirkt zwar nicht besonders avanciert, aber konzentriert, authentisch und einladend – nicht eben wenig in einer Zeit, in der vielen Menschen das Zuhören immer schwerer fällt. Auerbach kommentierte die Werke kurz und ermunterte das Publikum, einen eigenen Zugang zur Musik zu finden. An Stelle ihrer ursprünglich als Uraufführung angekündigten Klaviertrio-Bearbeitung von Robert Schumanns „Dichterliebe“ spielte das Trio ihre handwerklich interessante Transkription von Sergej Prokofjews Flötensonate op. 94 als europäische Erstaufführung. Auch wenn der selbstkritisch gestimmte Alban Gerhardt, als ihm im zweiten Satz eine Cello-Saite riss, meinte „Als ob der Abend nicht lang genug wäre“, wirkte das Zweieinhalb-Stunden Programm nicht ermüdend. Daniel Hope überbrückte den Saitenwechsel geschickt mit einer Anekdote.
Gespannt durfte man sein auf das „Rendezvous mit Lera Auerbach“ am Festival-Sitz in Oestrich-Winkel. Leider beschied sich SWR 2 – Moderatorin Konstanze Eickhoff mit ihren vorbereiteten Fragen und vergaß die klassischen Journalistentugenden des Nachfragens und Nachhakens. Auerbach selbst legte zusätzlichen Wert auf die Video-Präsentation von Opernausschnitten und Malereien, die weitgehend unkommentiert blieben. Und so verließ man die Kelterhalle mit dem etwas schalen Eindruck, ein „Universalgenie“ sei nicht befragbar, geschweige denn hinterfragbar, und brauche nur zu verkünden.
Dass die „Artist-in-Residence“ aber doch nicht in den Kokon eines 150 Jahre alten Geniekults eingesponnen war, zeigte sich in ihrem Werkstattkonzert auf Schloss Johannisberg mit neun Studierenden der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. Diese waren ganz ausgezeichnet präpariert und lieferten fesselnde Interpretationen des Streichquartetts Nr. 3, des Klaviertrios Nr. 1, des „Postcriptum“ für Klaviertriobesetzung, und des Trios für Violine, Horn und Klavier. Hier durfte auch das Publikum Fragen stellen, und Auerbach zeigte sich gelöst, auskunftsfreudig, dankbar und gewitzt. Leider war dieser schöne Abend so schwach besucht, dass in ganz ungastlicher Weise die Pausengastronomie geschlossen blieb.
Daniel Hope
Nicht jeder Künstler verträgt es gleichermaßen gut, wenn der Kulturbetrieb ihn auf ein Podest stellt und beweihräuchert. Daniel Hope etwa scheint davon wenig berührt. Als „Stargeiger“ begrüßt, musizierte er völlig partnerschaftlich „mit dem renommierten Hamburger Pianisten Sebastian Knauer“ und teilte sich mit ihm die Moderation des „America“-Programms auf Schloss Johannisberg, bei dem die Grundidee sogar noch mehr faszinierte als die souveräne und stilistisch vielseitige künstlerische Präsentation. An originaler Kammermusik für Violine und Klavier von Leonard Bernstein, Aaron Copland, Maurice Ravel und Antonin Dvorak zeigten Hope und Knauer die steten Wechselbeziehungen zwischen europäischer und amerikanischer Musikkultur auf. Vertieft wurde die Perspektive dann durch zwei Filmmusikausschnitte von John Williams („Schindlers Liste“) und Miklósz Rózsa („Ben Hur“) und die Arrangements dreier Songs aus George Gershwins „Porgy and Bess“ und eines Titels aus Hanns Eislers „Hollywooder Liederbuch“. In Eislers Exilanten-Lied „An den kleinen Radioapparat“ legte Hope den Violinpart so weich und lyrisch an, dass vom typisch aufgerauten Duktus der Singstimme nichts mehr zu spüren war. Naheliegend war der Gedanke an die Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa, denen 72 Jahre später ihr Smartphone zur Orientierung dient. Auch die Zugabe war wohl kaum ohne Hintersinn. Knauer und Hope präsentierten eine Komposition des englischen Komponisten Alan Ridout für Sprecher und Solovioline aus dem Jahr 1971, „Ferdinand“. Es ist eine musikalisch und dramaturgisch überaus witzige Version der Kinderbuch-Erzählung von 1936 des US-amerikanischen Autors Munro Leaf über den kampfunlustigen spanischen Stier Ferdinand.