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Anastasia Grishutina und Esther Valentin-Fieguth beleuchten die Gewalt im Kunstlied. Foto: Christian Palm/GWK Records

Anastasia Grishutina und Esther Valentin-Fieguth beleuchten die Gewalt im Kunstlied. Foto: Christian Palm/GWK Records

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Zwischen tradierter Norm und Genderperspektiven

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Bei Kunstlied-Interpretationen fehlt oft noch die Identifikation des Mannes mit der Frau · Von Roland H. Dippel
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Eine Kardinalregel gilt im Kunstlied für Texte mit persönlicher Perspektive, sofern es nicht um Balladen mit Mord, Missbrauch oder um lyrische Dialoge geht: Das poetische Ich, welches über Liebe, Leid und Leben sinniert, hat immer recht.

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Verhältnismäßig einfach und einwandfrei funktioniert das, wenn die vortragende Person ihre Stimme einer zur positiven Identifikation herausfordernden Figur gibt. Das ist natürlich so bei Franz Schuberts Vertonung „Gretchen am Spinnrade“ D 818 aus Goethes Tragödie „Faust I“, entstanden 1814. Die von Leidenschaft besessene junge Frau wird sich Faust hingeben. Sie wird unehelich schwanger, ihre Mutter versehentlich ins Jenseits befördern, vom Bruder verflucht werden. Danach wird sie ihr Kind töten und im Kerker vor der Hinrichtung sterben. Aber Margarethe kommt in den Himmel, nicht in die Hölle. Sofern man die von Schubert im motorischen Drive der Klavierbegleitung vorweggenommene Tatspirale kennt, funktioniert die im europäischen Kulturbetrieb seit dem frühen 19. Jahrhundert entwickelte Wirkungsdynamik. Da wird fast all das auf den Bühnen und Podien Gesehene bemitleidet, was im echten Leben auf Ablehnung stoßen muss. Auch die juristisch und moralisch schuldige Margarethe erfährt Mitleid.

Kritische Interpretationen

Aber Goethe selbst war in seiner Meinung zur Schuldfrage ambivalent. Die in Frankfurt am Main 1772 hingerichtete Kindermörderin Susanna Margaretha Brandt inspirierte ihn zum Mitleidsplädoyer der Gretchen-Tragödie. Im Fall der Johanna Catharina Höhn votierte Goethe 1783 für eine Hinrichtung, obwohl Herzog Karl August von Weimar die Todesstrafe bei Kindsmord durch ledige Mütter ablehnte. Im Lied beziehungsweise Kunstlied zeigt sich derzeit ein massiver Anforderungswandel durch Genderdiskurse. Stücke wie „Gretchen am Spinnrade“ sollen heute nicht mehr mit noblem Mitleid, sondern mit Drastik und Deutlichkeit den in letzter Konsequenz frauenfeindlichen Inhalt zum Klingen bringen. Zugleich bestehen wie in anderen Kunstsparten Tendenzen, die binäre Gleichsetzung des poetischen Ichs und des Geschlechts der Interpretierenden zu brechen. Aber die noch im 20. Jahrhundert einsetzenden Versuche von Dietrich Fischer-Dieskau, Ian Bostridge und Thomas Quasthoff, Schuberts „Gretchen am Spinnrade“ im Repertoire von Männern zu verankern, fanden kaum Nachfolger.

Analysierende Rebellion gegen Hass auf Frauen und vormoderne Frauenbilder ist derzeit auch in den klassischen Musikszenen eines der wesentlichen Anliegen. Das trifft viele Figuren aus vor 1900 entstandenen Kompositionen. Dabei kommt es auch zu Meinungsdifferenzen darüber, was aus vielen Werkschöpfungen an repressiven beziehungsweise emanzipatorisch gedeuteten Impulsen herausspringt. Für die Gattung Kunstlied wird beklagt, wie wenige Werke es von Frauen über Frauensujets und wie wenig alternatives Repertoire es zur als misogyn und anti-emanzipatorisch kritisierten Vergangenheit gibt. Eines der wenigen Beispiele auf Texte einer prominenten Autorin sind die Atwood Songs für Sopran und Klavier von Tania León. Clara Schumann (1819 bis 1896) vertonte Texte von Heinrich Heine, Friedrich Rückert, Emanuel Geibel. Alma Schindler-Mahler (1879 bis 1964) schätzte als Liedkomponistin Richard Dehmel, Otto Julius Bierbaum, Rainer Maria Rilke, Novalis. Beide Frauen hatten primär Vorlieben für die männlichen Lyrik-Autoren ihrer Zeit. Sogar in Kompositionen für den Salon wählten Frauen also kaum Texte von Frauen. Offene oder latente Botschaften an die Benachteiligten gab es im Kunstlied seltenst. Sänger*innen fällt deshalb die Suche nach vor 1918 entstandenen Ausnahmen schwer. Und bis heute sind es fast immer Frauen, welche das Repertoire von Komponistinnen der Vergangenheit pflegen. Der Tenor Peter Gijsbertsen ist einer von wenigen Männern, die Lieder von Clara Schumann in ihre Programme aufnehmen. Die Internationale Hugo-Wolf-Akademie in Stuttgart, ein wichtiges Forum für Lied, beklagt also zu Recht, dass „trotz einzelner wertvoller Initiativen der klassische Konzertbetrieb der gesellschaftlichen Realität deutlich hinterher hinkt“. Zur 46. Stuttgarter Meisterklasse für Liedkunst 2025 arbeiten die Dozentinnen Anne Le Bozec und Natasha Loges mit Teilnehmenden an Stücken der Komponistinnen Pauline Viardot, Elsa Barraine, Rita Strohl, Clara Faisst, Luisa-Adolpha Le Beau und Margarete Schweikert.

Und auch gegen binär betonierende Besetzungstraditionen gibt es Mittel: Eines ist die Aneignung durch Sänger*innen des anderen Geschlechts als dem des poetischen Ichs oder der Schöpfer*innen. So treten seit Lotte Lehmann zahlreiche Sängerinnen wie Brigitte Fassbaender und Joyce DiDonato mit Schuberts und Wilhelm Müllers „Winterreise“ D 911 auf, einem Zyklus aus explizit männlicher Perspektive. Zu ihnen kam 2019 Xavier Sabata, der als Countertenor ebenfalls zu den hohen Stimmgruppen zählt. Umgekehrt gibt es offenbar noch keine maßgebliche Interpretation von Robert Schumanns „Frauenliebe und -leben“ op. 42 nach Adalbert von Chamisso von einem männlichen Interpreten. Sänger*innen widmen sich allerdings mit einträchtig hoher Wertschätzung Liedern des schwulen Komponisten Reynaldo Hahn, auch denen mit queerer Bedeutungsebene, und denen des ebenfalls schwulen Benjamin Britten.

Feministische Alben und differenzierte Männlichkeit

Ein anderes Mittel ist das unmissverständliche Ausloten des sonst oft von einem brillant glättenden Vortrag überlagerten inhaltlichen Zündstoffes: So verdeutlichen zum Beispiel die Mezzosopranistin Esther Valentin-Fieguth und die Pianistin Anastasia Grishutina im 2023 veröffentlichten Album „Crime Scenes“ mit einer geschärften Interpretation und Werk­auswahl insgesamt die Beschreibung sexueller Gewalt in Schuberts „Heidenröslein“; mit Moritz Eggerts „Stille Oeynfassung“ folgt auf dieses Album eine beispielhaft unverblümte Dokumentation für all das, was zur Zeit der Romantik fast nur in Umschreibungen erklingen sollte.

Im Sommer 2024 setzten der Bassbariton Günther Groissböck und der Pianist Malcolm Martineau eine Marke für den in gesellschaftlichen Diskursen derzeit unterbelichteten Gefühlshaushalt des heterosexuellen Mannes. Ihr Album mit Beethovens „An die ferne Geliebte“ op. 98, Schumanns „Dichterliebe“ op. 48 sowie Einzelliedern von Brahms und Bruckner betitelten sie „Männerliebe und Leben“, natürlich in Anlehnung an den die inferiore Stellung der Frau bestätigenden Chamisso-Schumann-Titel „Frauenliebe und -leben“. Doch nicht Groissböck und Martineau hatten die Idee, sondern nach Angaben im Booklet eine ORF-Redakteurin bei der Präsentation von beider erster Lied-CD „Nicht Wiedersehen!“. Während die Frauen Valentin-Fieguth und Grishutina in die Offensivgestaltung gehen, bleiben die Männer in der affektiven Defensive. Die von Groissböck und Martineau ausgewählten Lieder erklingen bei anderen Interpreten mit weniger Sentiment und größerer Ambivalenz.

Bei Kunstliedern erhalten sich trotz Gender Studies und Queer Studies noch immer die alten Raster. Offen Sexuelles setzt dagegen kaum noch Provokationen frei. Die Mezzosopranis­tin Olivia Vermeulen und der Pianist Jan Philip Schulze erhielten für „Dirty Minds“, eine erotische Lied-Anthologie von Mozart bis Schönberg, den Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik 2020. Nicht minder erotisch aufgeladen ist das Album „Forbidden Fruits“ des Baritons Benjamin Appl und des Pianisten James Baillieu, welches sich auf Ovids „Ars Amatoria“ (Die Kunst zu lieben) bezieht. Ging es bei Vermeulen und Schulze um Ehrlichkeit und Deutlichkeit, so argumentierte Appl mit ethischem Anspruch: „In einer teilweise immer liberaler werdenden Welt, in der man Hierarchien ab- und sich gegen Autoritäten auflehnt, in der man ohne Zwänge und Grenzen scheinbar alles erreichen und ausprobieren kann, bleiben die Fragen nach der Relevanz von Begrifflichkeiten wie Versuchung und Sündenfall, Verbot und Ungehorsam, Gut und Böse.“ Appl setzt also Bedenken gegen Begehren. Aber in seinem Gesang sind weder Warnung noch Zweifel hörbar – dafür ein wohlig-sinnliches Vergnügen und Verlocken ohne virile Schuldgefühle.

Es geht auch im Kunstlied neben dem authentischen Geschlecht um Haltung und korrekte geschlechtliche Selbstrepräsentation der singenden Interpret*innen. Unter „Männerliebe und Leben“ vereinten Groissböck und Martineau Standardwerke des Liedrepertoires. Die eher unbekannte Bruckner-Trias setzt die inhaltlichen Ecken Gefühl, Frühling und Herbst. Groissböck durchmisst alle Titel mit reger Diktion, fülligem Timbre und affektivem Schmelz. Bei ihm ist das poetische Ich der Vertonungen also immer in Übereinstimmung mit der Melodielinie und der performativen Situation. Das Duo hinterfragt weder die Perspektive auf einstige und jetzige männliche Rollenmuster noch die damit verbundene emotionale Situation. Da setzt zum Beispiel der mit dem eigenen Buch „Schuberts Winterreise“ tief lotende Ian Bostridge andere Mittel zur Differenzierung ein.

Toxische Szenarien wie bei „Heidenröslein“ D 257 und „Erlkönig“ D 328 sind im Kunstlied seltener als psychische Extremzustände. Im romantischen und frühmodernen Lied manifestieren sich eher leidende, klagende, zögernde und erinnerungsmächtige Nischen der männlichen Psyche. Eine partielle Neukomposition von Schuberts „Die schöne Müllerin“ präsentierte der Belgier Daan Janssens 2024 mit seinem „Eine schöne Müllerin“: Janssens erweiterte die Vorlage mit Überschreibungen und expressiven Erfindungen, welche auf dem Album von dem Nonett SPECTRA unter Leitung von Filip Rathé gespielt werden. Janssens strich einige Lieder und setzte von ihm selbst vertonte Passagen aus Fernando Pessoas „Buch der Unruhe“ in deutscher Übersetzung dazu: Beschreibungen von Kreativitätskrisen und der Zuneigung des Ich-Erzählers zu immer wieder vergebenen Frauen. Janssens verallgemeinert damit Schuberts Thema einer existenziellen Liebes­enttäuschung mit Selbstmord für die Gegenwart. Der Tenor Thomas Blondelle setzte in schnörkelloser Empathie eine vorsätzlich kunstlose wie differenzierte Gestaltung.

Die Countertenor-Legende Philippe Jaroussky mengte mit dem Pianisten Jérôme Ducros in beider Album „Schubert: Lieder“ das Mignon-Lied „Nur wer die Sehnsucht kennt“ D 877/4 und Ellens dritten Gesang („Ave Maria“) D 839, also Lieder mit einem poetischen Ich von Frauen. Trotz solcher unspektakulärer, weil nicht eigens herausgestellter Einzelfälle besteht zwischen der theo­retisch eingeforderten Gender-Fluidität von Stimmkategorien (Mann, Frau, Androgyn, Kind) und der propagierten performativen Selbstverständlichkeit noch immer eine auffallende Lücke: die Aneignung beziehungsweise der klangliche Perspektivenwechsel in das frauliche poetische Ich durch die Männerstimmen Tenor, Bariton und Bass. Wer von den aktuellen Liedgrößen wagt sich also an Schumanns „Frauenliebe und -leben“ und signifikante Liedgruppen mit Themen aus Frauenstimmen wie Ellens Gesänge, Mignons Lieder oder eine ganze Gruppe mit Vertonungen von „Gretchen am Spinnrade“ und anderen Momenten aus „Faust“?

Der binäre Mann bremst als Liedsänger derzeit oft vor dem Sprung zu Themen des Geschlechts, welches nicht sein eigenes ist: Affektive Gewaltimpulse, was etwas anderes bedeutet als direkte physische oder psychische Gewaltausübung, gelten inzwischen auch in performativen Kontexten als kontrovers zu beurteilende Ausdrucksmöglichkeit – sogar für Inhalte, in denen affektive Gewaltimpulse plausibler Erschütterung oder Verunsicherung entspringen. Andererseits wollen offenbar weder die Sänger selbst noch das Publikum derzeit auf breiter Fläche den performativen Wechsel binärer Männerperspektiven zu Frauenpositionen. Was bleibt, ist also ein an den Rändern zu Affektextremen abgestumpftes Mittelfeld zwischen früher mit voller Energie artikulierten Emotionsspitzen.

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