Der 1810 in Königsberg geborene Otto Nicolai hatte offenbar eine Vorliebe für britische Stoffe. So komponierte er als Kapellmeister am Wiener Kärntnertortheater 1837 „Rosmonda d’Inghilterra“. 1840 folgte in Turin „Il templario“. Obgleich die französische Dramenvorlage zu „Il proscritto“, Frédéric Souliés „Le proscrit“, in Grenoble spielt, ist die Handlung von Nicolais „Il proscritto“ vor dem Hintergrund der Rosenkriege in England angesiedelt. Und die bekannteste Oper dieses Komponisten, „Die lustigen Weiber von Windsor“, basiert bekanntlich auf Shakespeare.
Der Entstehungsprozess von Nicolais dritter Oper nahm wunderliche Wege: Im Zuge der Entscheidung, welche Handlung er komponieren sollte, lag Gaetano Rossis Libretto „Il proscritto“ auch Verdi vor, während Nicolai das Libretto Soleras zu dem dann von Verdi vertonten „Nabuccodonosor“ ablehnte. Die Uraufführung von Nicolais Erstfassung, 1841 in Milano, war ein Fiasko, da Nicolais Ex-Verlobte die weibliche Hauptpartie nur markierte.
Für die auch im Handlungsverlauf veränderte Wiener Fassung komponierte Nicolai dann die Hälfte seiner Musik neu. In dieser Fassung brachte es die Oper auf über vierzig Vorstellungen. Das deutsche Libretto stammt von Otto Prechtler und von Siegfried Kapper, dessen Lyrik auch von Brahms und Dvorak vertont wurde. Nur noch zwei Nummern sind in Nicolais Berliner Fassung aus den Jahren 1847/48 mit der ersten Version identisch. Die Fassung kam, stark gekürzt, erst postum durch Heinrich Dorn in Nicolais Todesjahr 1849 zur Uraufführung. Allerdings enthält die Fassung letzter Hand, „Der Verbannte“, auch eine Tendenz zur Annäherung an die Grand Opéra, da Nicolai hier ein rund zehnminütiges Ballett eingefügt hat.
In Siegfried Kappers deutscher Version von Gaetano Rossis Libretto steht Leonore zwischen zwei Gatten, dem tot geglaubten Lord Artur Norton und Graf Edmund von Pembroke. Wie später in Hermann von Waltershausens „Oberst Chabert“, aber im Gegensatz zu den meisten anderen Opernhandlungen, sind hier die Rivalen – Tenor und Bariton – beide auf ihre Art edel und liebenswert. Leonore liebt beide und entflieht dem Zwiespalt durch
In der Absicht der Neubetrachtung von Nicolais Œuvre vor den „Lustigen Weibern von Windsor“ war am Theater in Chemnitz vor sieben Jahren die Wiederaufführung der italienischen Oper „Il templario“ erfolgt, der zwei Jahre später Nicolais nächstes Bühnenwerk folgte – allerdings zum Entsetzen des Herausgebers der diversen Fassungen bei der VG Musikedition Kassel, Michael Wittmann, nicht der Fassung letzter Hand, „Der Verbannte“, sondern in der Wiener Fassung von 1844. Die hatte der Chemnitzer Generalmusikdirektor Frank Beermann aufgrund der in der Endfassung nicht mehr enthaltenen, stilistisch mit ihren Koloraturen betont italienischen Arie der Leonore gewählt.
Der Unmut des Herausgebers ist in den vergangenen fünf Jahren nicht geschwunden. In seinem Beitrag im CD-Beiheft der bei cpo erschienenen Gesamtaufnahme auf 2 CDs betont Wittmann den Ausnahmecharakter dieser Edition: hierbei handele es sich um die letztmalige Aufführung dieser Fassung, zumal er das Aufführungsrecht nur noch für die Berliner Fassung erteilen werde.
Der Opernfreund kann sich jedoch an der Erstveröffentlichung dieser Oper in ihrer Wiener Fassung auf CD durchaus erfreuen: Musikalisch zeigt sich Nicolai mit seiner Oper voll auf der Höhe der Zeit. In der Abfolge der 13 Nummern der zweiten Fassung gibt es keine Schwachstelle, und das Finale des dritten Aufzuges erweist sich kompositorisch als ein echter Wurf. Nicolai beherrscht den Stil der italienischen Oper, die er 1833 für zwei Jahre in Rom studiert hatte. Dabei stehen seine Themen und deren Verarbeitung dem jungen Verdi nicht nach.
Mit großer Emphase wird diese Partitur auf dem Wege zur deutschen romantischen Oper belebt, und zwei schwungvolle Themen, die bereits Verwandtschaft zur Partitur der „Lustigen Weiber von Windsor“ zeigen, rücken dem Hörer das Werk nachvollziehbar in den Entwicklungsbogen vom Tempelritter zum dicken Ritter.Die wohldisponierten Robert-Schumann-Philharmonie lässt die zarten Töne der Lust trefflich erklingen, und Frank Beermann gelingt es, biedermeierlich klingende Passagen dramatisch packend ins Gesamtgefüge einzubinden. Dabei ist das Hörergebnis durchaus runder als der Live-Eindruck des Rezensenten bei der Chemnitzer Premiere.
Getragen wird die Sängeroper von rollendeckend starken, textverständlichen Solisten. Julia Bauer verkörpert die Leonore mit makellosen Koloraturen, jugendlich schlanken und auch schon kernig dramatischen Tönen. Bariton Hans Christoph Begemann als situierter Graf Edmund obsiegt mit warm aufblühender Kantilene im dritten Akt, während in der Titelpartie seines Gegenspielers Lord Artur Norton Bernhard Berchtold seinen wohltönend kraftvollen Mozarttenor einsetzt. In kleineren Partien und im Soloquartett gefallen der Tenor Uwe Stickert als Leonores Bruder Georg, der Bassist Kouta Räsänen als ihr Stiefbruder Richard die Mezzosopranistin Tiina Penttinnen als ihre Vertraute Irene und André Riemer als Williams.
Imposant klingt der von Mary Adelyn Kaufman einstudierte Chor der Oper Chemnitz, insbesondere auch in dem im Januar 1911 in der Chemnitzer Aufführung gestrichenen Chor-Finale des zweiten Aktes, das für die akustisch ausgewogene, klanglich direkte CD-Gesamteinspielung nachproduziert wurde.
Otto Nicolai: Die Heimkehr des Verbannten. Oper in drei Akten.
Hans Christoph Begemann (Graf Edmund von Pembroke), Bernhard Berchtold (Lord Artur Norton), Julia Bauer (Leonore), Kouta Räsänen (Richard von Somerset), Uwe Stickert (Georg), Tiina Penttinnen (Irene), André Ridemer (Williams). Robert Schumann-Philharmonie, Chor der Oper Chemnitz, Frank Beermann
cpo 777 654-2 (2 CDs)