Eines Abends, während der Spielzeit 1848/49, bat das Publikum eine relativ unbedeutende portugiesische Sängerin in Rossinis Barbier, eine Arie zu wiederholen. Clementina Cordeiro, die einzige „lyrische Dame“, die bis dato das Konservatorium absolvierte, nahm den Applaus als einen unverhofften Triumph, traf beim zweiten und dritten Versuch jedoch nicht mehr den richtigen Ton: Das Orchester, so war es von rivalisierenden Publikumsclans zuvor inszeniert, hatte jeweils um ein weniges höher oder tiefer gespielt und gab so die Sängerin der Lächerlichkeit preis.
Mário Vieira de Carvalho: Denken ist Sterben. Sozialgeschichte des Opernhauses Lissabon, Bärenreiter Kassel 1999, Musiksoziologie Bd. 5, 432 S. Eines Abends, während der Spielzeit 1848/49, bat das Publikum eine relativ unbedeutende portugiesische Sängerin in Rossinis Barbier, eine Arie zu wiederholen. Clementina Cordeiro, die einzige „lyrische Dame“, die bis dato das Konservatorium absolvierte, nahm den Applaus als einen unverhofften Triumph, traf beim zweiten und dritten Versuch jedoch nicht mehr den richtigen Ton: Das Orchester, so war es von rivalisierenden Publikumsclans zuvor inszeniert, hatte jeweils um ein weniges höher oder tiefer gespielt und gab so die Sängerin der Lächerlichkeit preis. Weniger dass sich die Feindseligkeit des Publikums an einer Frau exponierte, vielmehr dass selbiges eine Landsmännin über kurz oder lang von der Bühne vertrieb, beleuchtet ein Phänomen, das sich für die Geschichte des Hauses als symptomatisch erweist und aus dessen Verständnis sich grundsätzliche Konstellationen erhellen. Solisten aus dem Inland sind in Portugals einzig namhaftem Operntheater bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Ausnahmefall – es fehlen ein festes Ensemble, ein theatereigenes Orchester, und darüber hinaus im Lande verankerte Literatur. Was man unter „Oper“ versteht, verbindet sich mit Ensembles und Stars aus Italien und ist in erster Instanz italienisches Repertoire.Die Fremdheit und Fremdsprachigkeit der importierten Kultur, so Autor Mário Vieira de Carvalho, korrespondiert mit der sozialen Funktion, über die sich der Opernbetrieb in wechselnden Regimen und Zeiten selbst definiert. Anders als in anderen europäischen Ländern, die gleichfalls erst spät die staatliche Selbstständigkeit erlangen, vermisst man in Lissabons erstem Haus sowohl bürgerlich-aufklärerische wie national-ideologisch formierende Aktivitäten. Anstelle Bewusstsein bildender Werkrezeption produziert sich vielmehr die jeweils politisch dominante Elite, die Oper als „Opernmusik“ und somit nur als Dekor ihrer Selbstinszenierung ansah und bis heute ansieht.
Wie sich speziell die sozialen Kommunikationsgefüge entwickeln, analysiert diese wissenschaftlich angelegte Studie sehr beredt. Statt auf das musikalische Drama auf der Bühne konzentriert sich die Unterhaltung des Abends auf das Geschehen in und zwischen den Logen, auf Liebesbeziehungen zwischen Primadonnen und Verehrern im Zuschauerraum, auf Kleidung und spektakuläre Aktionen von Amateuren, Dandys und Müßiggängern sonstiger Art. Gänge und Foyer avancieren zu wichtigen Lokalitäten, das Promenieren und die geschönte Fassade sind zentrale Momente des Opernevents.
Der kommunikationstheoretische Ansatz weist Mário Viera de Carvalho als einen Schüler Christian Kadens aus, bei dem der heutige Lissabonner Professor für Musikwissenschaft Mitte der 80er-Jahre an der Berliner Humboldt-Universität promoviert hat. Zu Recht ist die ungemein weit recherchierte, historisch brisante Studie denn auch in Kadens Reihe „Musiksoziologie“ bei Bärenreiter in Kassel erschienen. De Carvalho rekonstruiert darin anhand von zahllosen Zeitdokumenten eine Praxis, die nicht allein für Lissabon, sondern für viele andere europäische Bühnen nach wie vor gilt: für Häuser, deren Strukturen wohl internationalem Maßstab gehorchen, in deren Geschichte die Sozial-Utopie vom Theater als Diskussionsort sozialen Wandels bis heute unbekannt ist. Dieser Umstand gewinnt an Brisanz, wenn der Autor Zusammenhänge zwischen dem repräsentierenden Opernbetrieb und der Diktatur Salazars aufzeigt. Unübersehbar ist in diesem Kontext die Rolle, die Richard Wagners Werk in Portugal spielt. Die Importe von Wagner-Ensembles, beginnend 1883 mit Lohengrin, stellen zunächst die italienische Praxis in Frage und führen zu internen Debatten um die Bedeutung von Fabel, Szene und Drama, von Text und Musik. Aufführungspraktisch betrachtet verschieben sich die Relationen vorübergehend zugunsten von Bühne und Werk. Beim Lissaboner „Ring“ im Jahre 1909 beispielsweise werden erstmals im Zuschauerraum die Lichter gelöscht, und die Aufführung bei der verspäteten Ankunft des Königs wird nicht mehr unterbrochen. Kulturideologisch dagegen bedienen Opernfiguren wie Parsifal oder Siegfried den landesweit wachsenden Messianismus, den „Sebastianismo“, einen ins Nationalistische gerichteten Führerkult. Doch anders als in Deutschland braucht die faschistische Diktatur in Portugal keine Massenbewegung; die neue Elite in Sao Carlos zelebriert spätestens ab den 40ern Erhabenheit, Dekor und Garderobe. Besser übrigens als die ihr folgende Demokratie versteht sie es auch, den Anschein zu wahren, ihre Prestige-Institution gehöre zu den bedeutendsten Opernhäusern der Welt.