„Ziel dieses Buches ist es, die musikalische Entwicklung von Kindern in Bezug auf ihre kulturelle Umgebung darzustellen und zu untersuchen, wie sie die kulturellen Regeln erwerben und welche Bedingungen dabei wirksam sind.“ Stadler Elmer stellt viele Fragen, mit deren Beantwortung sie uns tief in die jeweiligen Themengebiete, mitsamt aktuellem Forschungsstand führt. Wissenschaftlich fundiert und doch gut verständlich formuliert, angereichert mit Hervorhebungen, Definitionen und grauen Merkkästchen sowie Tabellen und Abbildungen stellt sie das Thema dar. Einzig die „Resümee“ genannten Abschnitte halten ihr Versprechen nicht immer ein, sind sie doch meist weniger Zusammenfassungen als vielmehr weiterer erläuternder Text oder Wiederholung von weniger wichtigen Ergebnissen.
Nach einem einleitenden Kapitel stellt die Autorin Musik in einen kulturellen Kontext, indem sie die Frage stellt, warum Menschen überhaupt Musik machen. Symbole, Ritual, Identität, aber auch Spiel und Gefühl sind dabei wichtige Stichworte. Grob zusammengefasst ist Stadler Elmers These hier die, dass Ziele des Liedersingens Gemeinschaftsbildung und Identitätsstiftung sind. Mit Hilfe von Ritualen und Symbolen (Musik als kulturelles Zeichensystem) und strukturiert durch Konventionen und Spielregeln, über die auch Affekte reguliert werden, können diese erreicht werden. Leider fehlt hier ein Vergleich mit anderen gesellschaftlichen Aktivitäten wie etwa dem Sport, dem ja partiell ähnliche Funktionen zugesprochen werden.
Wer schon immer einmal von Grund auf alle Begriffe, die beim Singen und Musikmachen relevant sind, erklärt und erläutert haben wollte, der wird im dritten Kapitel fündig. Angefangen von den physikalischen Grundlagen (Schall) über Tonhöhen, Strukturierung von Zeit (Rhythmus) bis zu den Zusammenhängen und Unterschieden von Musik und Sprache erörtert die Autorin hier sys-tematisch alle Faktoren. Auf das Kinderlied und seine „Grammatik“ geht Stadler Elmer im vierten Kapitel näher ein und diskutiert dort auch schon zum ersten Mal den Umgang mit diesen Spielregeln, was in Kapitel sechs noch ausführlicher und angereichert durch Fallbeispiele geschieht. Das „Schon einmal“ oder „Noch einmal“ ist ein Punkt, den man dem gesamten Band zum Vorwurf machen könnte. Auch wenn das sehr übersichtliche Inhaltsverzeichnis anderes vermuten lässt, baut sich das Buch nicht stringent von Anfang an auf. Überall wird auf andere Kapitel verwiesen und Bezug genommen. Das erleichtert einerseits das Blättern und Springen, erschwert andererseits jedoch das systematische Verfolgen der Argumentation. Das gleiche Phänomen wird mal in diesem, mal in einem anderen Kontext dargestellt, was zumindest ihre gegenseitige Vernetzung und Verzahnung deutlich werden lässt. Erkennbar wird in jedem Falle, dass es sich sowohl bei Musik als auch bei Sprache um generative Systeme handelt, die nicht immer klar voneinander abgegrenzt werden können. Und die Autorin kommt zu der Einsicht, dass Volks- und Kinderlieder das Musik- und Sprachsystem in sich vereinen, weshalb die Kenntnis der Kinderliedgrammatik von großem Nutzen sein kann.
Auf dem Weg zum Singen und Sprechen ist der Autorin der Aspekt der sozialen Interaktion ein wichtiges Anliegen. Ausführlich beschreibt sie das intuitive elterliche Verhalten, wie es im so genannten Babytalk zum Ausdruck kommt. Bei der näheren Untersuchung der jeweiligen Spezifika des Singens beziehungsweise Sprechens mithilfe der von ihr entwickelten Mikroanalyse frühkindlicher Vokalisationen kommt Stadler Elmer zu dem Schluss, dass den Kindern das Singen anfänglich leichter falle als das Sprechen. Zusammengenommen ergibt sich aus ihren Beobachtungen folgende These: „Aufgrund des prägnanten Vorkommens von musikalischen Eigenschaften in der frühen Interaktion lässt sich vermuten, dass Musik das sich zuerst anbahnende kulturelle Zeichensystem ist.“
Generell ist es Stadler Elmer wichtig zu betonen, dass es eine große Variabilität an Wegen zur Musik gibt, die nicht an Altersnormen gebunden werden kann. Vielmehr sei die musikalische Entwicklung ein lebenslanger Lernprozess. Nachahmung und spielerische Elemente sind dabei die entscheidenden Methoden, Anstrengung und Übung werden aber durchaus auch gebraucht. Hier wird klar, welche Bedeutung diese Erkenntnis und damit auch das Buch für all diejenigen hat, die mit kleinen Kindern Umgang haben – ob Eltern oder Pädagogen: singt mit den Kindern – je früher und mehr, desto besser!
Stefanie Stadler Elmer: Kind und Musik: Das Entwicklungspotenzial erkennen und verstehen, Springer, Heidelberg 2015, XIV, 216 S., Abb., € 29,99, ISBN 978-3-642-41692-7