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Damit Geschichte nicht Geschichte bleibt

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Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte der musikalischen Bildung
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Karl Heinrich Ehrenforth: Geschichte der musikalischen Bildung. Eine Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte in 40 Stationen. Von den antiken Hochkulturen bis zur Gegenwart, Schott, Mainz 2005, 554 S., € 62,00, ISBN 3-7957-0502-9

Mit seiner Geschichte der musikalischen Bildung hat Karl Heinrich Ehrenforth die Summa seines über vierzigjährigen Lernens und Lehrens als Musikpädagoge und Hochschullehrer vorgelegt. Der mit übersichtlichen Zeittafeln, Abbildungen und Verzeichnissen ansprechend ausgestattete Band lädt in vierzig historischen Stationen, verteilt auf zehn Kapitel, nicht nur zum Schmökern, sondern auch zum weiterführenden Studium ein. Ehrenforth, ein Grandseigneur der deutschen Musikpädagogik, spricht eine breitere Fachöffentlichkeit und Studierende geisteswissenschaftlicher Fachrichtungen ebenso an wie interessierte „Laien“ und lässt teilhaben an seiner Darstellung und Sichtweise von musikalischer Bildungsgeschichte. Dabei ist er sich dessen bewusst, dass er selbst bloß zeitweiliger Schauspieler bei der „Aufführung“ des Stückes „Musikalische Bildung“ ist und vom „Standort mitten im Fluss der Geschichte“ (S. 42) das Unmögliche versucht: Aussagen zu treffen, die eigentlich nur vom objektiveren Standpunkt des Ufers aus möglich wären.

In dem Streben nach Objektivität und umfassender Darstellung versucht Ehrenforth aus kultur- und ideengeschichtlicher Perspektive, dem Manko der bisherigen musikpädagogischen Historiographie abzuhelfen, die oft zu sehr auf die (deutsche) Schulmusik beschränkt bleibt oder eben historisch zu begrenzt und – letztlich mehr oder weniger willkürlich – erst bei der Verschriftlichung der Musik im 8. Jahrhundert oder gar erst um 1800 mit Pestalozzis Idee von Bildung für alle ansetzt.

Wenngleich Ehrenforth seinen Gang durch die Geschichte der musikalischen Bildung bei den Ursprüngen außereuropäischer Früh- und Hochkulturen beginnt, wird bald deutlich, dass sein eigentlicher Fokus auf dem jüdisch-griechisch-christlichen Kulturraum und zuletzt im deutschen Sprachraum liegt – eine fortschreitende Verengung, die Ehrenforth im Vorwort zwar eingesteht, die vielleicht aber auch im Titel des Buches ihren Niederschlag hätte finden können. In guter humanistischer Tradition geht der Blick zunächst zur europäischen Antike, hochinteressant eingeleitet über die Musiké-Erziehung, dann zu Pythagoras, Platon und Aristoteles und schließlich zum Hellenismus und nach Rom (Varro, Cicero und Boethius). Kennzeichnend hier wie im ganzen Buch ist, dass Ehrenforth nicht nur lineare Entwicklungen (etwa die abnehmende Bedeutung der Musikerziehung von Platon zu Aristoteles oder die „Verwandlung“ der sophistischen Enkyklios Paideia zu den römischen septem artes liberales) schlüssig darstellt, sondern dass er auch immer wieder in querverweisenden „Zeitsprüngen“ (etwa von Platon zu Kepler) Zusammenhänge spannend beleuchtet. Dabei beugt er unreflektiertem Fortschrittsglauben grundsätzlich und umsichtig vor, indem er frühere „Entwicklungsstadien“ nicht zugunsten des Neuen beiseite legt, sondern um ihres originären Gehaltes willen bedenkt und auf lohnende Wertschätzung prüft. Beispielsweise macht er das Weiterwirken magischer Vorstellungen des Mythos offenkundig. Trotz dessen Überwindung und „Entwicklung“ zum Logos seit der klassischen Antike (S. 55) und in welcher sich aufgeklärt dünkenden Zeit auch immer, bleiben diese bis heute spürbar, etwa in den deutlich kosmogonisch-mythischen Zügen der naturwissenschaftlich gekleideten These vom Urknall. Auf solche Weise sein Kernthema überschreitend, vermittelt Ehrenforth dem Leser eine bereichernde Sicht auf die Zusammenhänge einer ganzheitlich verstandenen Bildungsgeschichte.

Philosophisch, theologisch und religionswissenschaftlich fundiert stellt der Autor im Kapitel „Musik im Dienst des jüdisch-christlichen Gotteslobs“ den Umgang mit dem namenlosen und unsichtbaren Gott Jahwe im musizierten Gotteslob als über die Jahrtausende wirkende Weichenstellung für die europäische Musikkultur und als Wurzel der europäischen musikalischen Bildungs-idee dar. Hier oder spätestens in der Konsultation von „Weisen dieser Welt“ (u.a. Origines, Tertullian) und von Augustinus in zwei Stationen des Kapitels zur Frage „Was ist christliche Bildung?“ wird Ehrenforths grundlegender Gedanke deutlich: Zu seinem musikbezogenen Bildungsverständnis, ein Bild von der Welt, vom Ich und vom Anderen zu gewinnen (S. 522), gehört die Erkenntnis, dass tieferes Verständnis musikalischer Bildung nicht möglich ist, ohne ihre Wurzeln in der kultisch-religiösen Dimension des Menschseins zu erkennen und sie in den Umgang mit späteren Bildungsansätzen hineinzunehmen. Diese Überzeugung zieht sich wie ein roter Faden bis ins letzte Kapitel des Buches.

Die Kapitel dazwischen – hier nur angedeutet darstellbar – führen in Gesellschaft von Benedikt von Nursia, Karl dem Großen und Alkuin in das Mittelalter, geben Einblicke in die pädagogische Arbeit der Cantores im fränkischen Kloster und gelangen über Guido von Arezzo zur Station der Spielleute, Meister- und Minnesänger und Stadtpfeifer, in deren Zentrum die Entwicklung eines öffentlichen Bildungsauftrages steht. Im Kapitel „Aufbruch in die Neuzeit“ werden, von Luther zu Bach fortschreitend, Stationen quer durch Europa (u.a. Vivaldis venezianisches Ospedale und die englischen Kathedralschulen) gestreift. Der kulturkritische Aufbruch Rousseaus, das reformatorische Wirken Hillers und einschlägige musikalische Lehrwerke der Zeit bilden die Eckpunkte des Kapitels zum 18. und 19. Jahrhundert. Auf musikalische Volksbildung, in Goethes „Wilhelm Meister“ (Ehrenforth empfiehlt hier stärkere musikpädagogische Wertschätzung) formuliert und in der europäischen Singebewegung konkretisiert, fokussiert das Kapitel zum 19. Jahrhundert im Zusammenwirken allgemeiner und dezidiert musikalischer Bildungsreformer (Pestalozzi, Fröbel, Zelter). Das Kapitel zum 20. Jahrhundert mündet in zwei Essays, die musikalische Bildung im politischen wie kultur- und bildungstheoretischen Zusammenhang sehen. Vor historischem Hintergrund formuliert Ehrenforth Stellungnahmen und Schlüsse zu eigenen Thesen, die eine aktive Positionierung der Leserschaft suchen. Einer seiner Kerngedanken besagt, dass der Kunst (nicht nur der musikalischen) gerade in der zukünftigen Wissensgesellschaft ein ebenbürtiger Platz neben der Wissenschaft einzuräumen sei. Darüber hinaus aber wird sich, so Ehrenforth, die „tiefenpsychologische Dignität“ (S. 530) der Musik in der ernsthaften Suche des Menschen nach Wahrheit in der Selbst- und Welterkenntnis erschließen, denn ursprünglich Gemeintes lässt sich nicht einfach eliminieren. Musikalische Bildung ist so mit absolutem Wahrheitsanspruch verbunden und enthält auch das Plädoyer, Falsches zu entlarven. Dies ermöglicht nicht nur, die im Prozess der Säkularisierung bis heute der Musik zugespielte quasi-religiöse Statthalterschaft zu hinterfragen oder staatsideologischen Missbrauch zu durchschauen, sondern bei der Orientierung über Herkunft, Ankunft und Zukunft unserer Musikkultur Perspektiven zurechtzurücken.

Berechtigterweise ist der Autor von der (unausgesprochenen) Hoffnung getragen, dass die Leserschaft – angesichts der in der globalisierten Welt immer stärker aufgehenden Schere von technischem Fortschritt und bedrohtem Humanum – aus der Kenntnis und Diskussion der Geschichte Lehren für zukünftige Welterfahrung und -gestaltung ziehen könnte und dass die Musik schließlich motivieren möge, „aus dem Düsenjet auszusteigen“ (S. 532), damit der Blick nach innen gehen und in neuem, verlangsamtem Fortschrittsmodus Wesentliches wahrnehmen kann. Hier könnten Sinn und Zukunft musikalischer Bildung liegen.

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