Gut 30 Jahre liegen die Anfänge interkulturell orientierter Musikpädagogik in Deutschland mittlerweile zurück, und längst ist ein buntes Sammelsurium von Theorien und Unterrichtsmaterialien entstanden. In ihrer Dissertation unternimmt Dorothee Barth den dankenswerten Versuch, einen Überblick über diese Vielfalt zu schaffen, grundlegende Probleme herauszuarbeiten und neue Perspektiven zu entwickeln. Im Zentrum ihrer Untersuchung steht der so überstrapazierte Begriff „Kultur“. Hinter diesem zunächst sehr theoretisch klingenden Thema jedoch verbirgt sich eine ausgesprochen realitätsnahe Haltung, im Kern die Frage: Wozu überhaupt Musikunterricht?
Zunächst untersucht Barth Unterrichtsmaterialien und -konzepte, die von einem „normativen Kulturbegriff“ ausgehen. Hier richtet sich das pädagogische Interesse auf die vermeintlich objektive Seite von Musik – in erster Linie solche europäischer Tradition. Innerhalb eines solchen Ansatzes unterscheidet Barth zwei Denkrichtungen: Die Konzentration auf das künstlerische Objekt einerseits und die auf die subjektive Seite von Kultur andererseits, nämlich auf die Schulung ästhetischer Wahrnehmung. Problematisch erscheint Barth, dass die Rolle ästhetischer Subjekte in beiden Fällen vorrangig bei den Komponisten liegt – Schüler/-innen bleiben Rezipienten.
Auch ist die Annahme verbindlicher ästhetischer Kriterien, schon in Europa zweifelhaft, in interkulturellem Kontext kaum haltbar. Die Behandlung von Komponisten wie Claude Debussy, Olivier Messiaen oder Isang Yun reicht für eine tatsächliche interkulturelle Offenheit nicht aus. Deutlich abgesetzt erscheint demgegenüber der „ethnisch-holistische Kulturbegriff“. Im Mittelpunkt stehen nicht Kunstwerke und ihre Rezeption, sondern die Lebensweise von Menschen. Einflussreich wurde diese Einstellung in den 1980er-Jahren, als die Pädagogik auf Migration zu reagieren begann. Kultur wurde damals meist als Nationalkultur aufgefasst, als homogenes und statisches Ganzes von Traditionen, Auffassungsweisen und Ausdrucksformen. Problematisch erscheint Barth die stillschweigende Gleichsetzung von Kultur und Ethnie. Mit „unterschiedlichen Kulturen“ waren in der Regel nicht Punks versus Versicherungsvertreter gemeint, es ging um „fremde“ Kulturen. In der Analyse von Unterrichtsmaterialien zu türkischer Musik zeigt Barth, wie entfernt die Darstellungen der „Herkunftskultur“ in diesem Sinne mitunter von der Realität der meisten Schüler/-innen liegt, etwa bei der Behandlung der elitären Musik osmanischer Sufis.
Auch die Haltung, türkische Kinder als Expertinnen ihrer „Herkunftskultur“ zu sehen, erweist sich als realitätsfern – vor allem bei der zweiten oder dritten Generation. Weiterhin schwierig ist der Beobacher-Standort, von dem aus „fremde“ Kultur behandelt werden soll: Deutschstämmige Schülerinnen und Schüler sollen Andersartigkeit erkennen und tolerant verarbeiten. Nicht-deutschstämmige Schülerinnen und Schüler werden tendenziell Anschauungsobjekte.
Zudem ist bei der Behandlung der „eigenen“ Kultur oft weiterhin ein normativer Kulturbegriff virulent – lediglich bei „fremden Kulturen“ gilt der holistisch-ethnische, was die Trennung weiter verstärkt.
Bei der Behandlung des „bedeutungsorientierten Kulturbegriffes“ wandelt sich die Haltung der Arbeit von deskriptiver Analyse zu einem Plädoyer. Kulturen gelten nun als Sinnsysteme, als geteilte Wissensordnungen. Ausgehend von neuen Kulturkonzepten der Cultural Studies brach Volker Schütz Ende der 90er-Jahre in seinem Konzept der Transkulturalität erstmals mit dem holistisch-ethnischen Kulturbegriff. Die Abgrenzung „verschiedener“ Kulturen voneinander hielt er für überholt, Kulturen seien stets eng miteinander vernetzt, „Eigenes“ und „Fremdes“ schlechthin existiere nicht mehr. Lateinamerikanische Musik sei heute für viele Schülerinnen und Schüler vertrauter als europäische Klassik.
Lediglich in einem Feld der Musikpädagogik findet Barth den bedeutungsorientierten Kulturbegriff implizit bereits angewandt: Bei der Behandlung von Jugendkulturen spielen künstlerische Objekte ebenso wenig eine Rolle wie die Vorstellung von Ethnizität. Erstaunlicherweise jedoch werden Migrantenkulturen im Kontext von Jugendkulturen praktisch nie berücksichtigt – für sie gälte weiterhin meist der ethnisch-holistische Kulturbegriff.
Barth plädiert im Kern dafür, sich stärker nach den Lebenswelten der Schülerinnen und Schüler auszurichten, dabei aber, ähnlich wie bei der Behandlung von Jugendkulturen beispielsweise nach dem Zusammenhang zwischen Zusammengehörigkeitsgefühl der Jugendlichen und ihrem musikalisch-ästhetischen Geschmack zu fragen.
Dorothee Barths Arbeit ist infolge der vielen detaillierten Textanalysen und dem theoretischen Gegenstand streckenweise keine leichte, durch ihre erfrischend praktische Haltung aber immer wieder eine höchst anregende und lohnende Lektüre.