Robert Spruytenburg: Das LaSalle-Quartett. Gespräche mit Walter Levin, edition text + kritik, München 2011, 428 S., Abb., € 49,00, ISBN 978-3-86916-102-0
Was kommt heraus, wenn sich ein Chemiker und ein Geiger miteinander unterhalten? „Das LaSalle-Quartett“, Robert Spruytenbergs Gespräche mit Walter Levin, ist ein Musikbuch für Kenner und Liebhaber und zugleich eine spannende Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Der Autor, ein in der Basler Chemie tätiger Ingenieur, ist zwar „nur“ ein Laie, doch die Fragen, die er stellt, verraten eine profunde Kenntnis der Materie. Das zeigt sich bis zu dem mit wissenschaftlicher Genauigkeit erstellten Anmerkungsapparat. Ein präziser Fragesteller trifft auf einen geistreich formulierenden Erzähler. Walter Levin, Gründer und einstiger Primgeiger des LaSalle-Quartetts, wartet mit einem imposanten Fundus an Wissen und einem phänomenalen Erinnerungsvermögen auf. Und so entfaltet sich vor dem geistigen Auge des Lesers die Geschichte eines Ensembles, das bis zu seiner Auflösung 1987 vierzig Jahre lang das moderne Quartettspiel nachhaltig geprägt und darüber hinaus entscheidende Impulse zum Entstehen einer zeitgenössischen Quartettliteratur gegeben hat.
Zu den zwanzig Komponisten, deren Werke das LaSalle-Quartett in Auftrag gegeben und/oder uraufgeführt hat, gehören Ligeti und Lutoslawski, Pousseur und Penderecki, Herbert Brün, Kagel, Nono und Gielen. Anders als später das Arditti Quartet waren die LaSalles aber noch voll im traditionellen Repertoire verwurzelt; Haydn war ihr tägliches Brot und Beethoven der Anker, an dem sie ihre Interpretationen der klassischen Moderne, zumal der Wiener Schule, festmachten. Der Spagat zwischen alt und neu war keineswegs unproblematisch, und Levin verschweigt nicht die schwierigen Debatten, die sein permanentes Eintreten für die Zeitgenossen unter den Ensemblemitgliedern auslöste.
Die Diskussion interpretatorischer Fragen, Reflexionen zur Musikgeschichte und Ästhetik, analytische Beobachtungen zur Kompositionstechnik: Schon das macht das Buch zu einer Fundgrube für alle, die sich für die Gattung Streichquartett interessieren. Der Radius dieser Gespräche reicht aber weit über rein musikalische Aspekte hinaus. Denn erzählt wird die abenteuerliche Geschichte eines Ensembles, das als dialektische Antwort auf den Kulturbruch der Nazis entstanden ist. Vier deutsch-jüdische Musiker, die mit Glück der Vernichtungsmaschinerie des Dritten Reichs entkommen sind – Henry Meyer, der zweite Geiger, wurde von den Amerikanern aus dem KZ befreit –, setzen sich 1947 in New York mit dem Ziel zusammen, die vergewaltigte Musikkultur des Landes, das sie verjagt und das sich dabei selbst zerstört hat, wiederzubeleben. Treibende Kraft ist der in Berlin aufgewachsene Walter Levin, der zunächst mit seinen Eltern nach Palästina emigriert und nach Kriegsende in die USA gekommen ist, um an der Juilliard School zu studieren. Ab 1953 hat das Quartett seinen festen Sitz am College of Music in Cincinnati, und von hier aus unternimmt es in den kommenden Jahrzehnten unzählige Konzertreisen nach Europa und in die ganze Welt. Managerin des Ensembles bis zu seiner Auflösung ist Walter Levins Frau Evi Marcov-Levin, ebenfalls ein Emigrantenkind.
Die Schilderung der frühen Jahre in Amerika ist, neben den Erinnerungen an die Kindheit in Berlin, der vielleicht faszinierendste Teil des Buchs. Die unzähligen aus Europa geflüchteten Künstler bildeten ein einzigartiges kulturelles Biotop, in das viele Mäzene mit Freude ihr Geld hineinsteckten. Da konnte es auch vorkommen, dass das LaSalle-Quartett bei seinem Debütkonzert in Cincinnati vom Besitzer einer Supermarktkette rasch eben mit Stradivari-Instrumenten ausgestattet wurde. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten bildete damals ein Auffangnetz für die europäische Kultur, die sich im freien Fall befand. Levin kann zurecht feststellen, dass ein zukunftsorientiertes Ensemble wie das LaSalle-Quartett damals nur in Amerika möglich war. Der kulturelle Optimismus, der aus seinen Worten spricht, hat ihm geholfen, die Katastrophe zu überleben.