Milan Turkovic/Monika Mertl: Die seltsamsten Wiener der Welt. Nikolaus Harnoncourt und sein Concentus Musicus – 50 Jahre musikalische Entdeckungsreisen Residenz Verlag, Salzburg 2003, 150 S., € 29,90, ISBN 3-7017-1267-0
Die Geschichte liegt lange, lange zurück und Nikolaus Harnoncourt erzählt sie immer wieder gern. Ein Bekannter hatte ihm von der Existenz einer rätselhaften Schatulle berichtet, die auf einem Schloss in Niederösterreich gefunden worden war und merkwürdig durchbohrte Holzstücke enthielt. Eines Abends erschien er im Hause Harnoncourt mit eben jener Schatulle unterm Arm. Als Harnoncourt sie öffnete, fand er darin eine funkelnagelneue Flöte, jungfräulich, nie gespielt – mehr als 200 Jahre alt! Sie war ein Werk des Instrumentenbauers Carl August Grenser, der als einer der bedeutendsten Flötenmacher des achtzehnten Jahrhunderts in Deutschland galt und auch zahlreiche Instrumente an den Preußischen Hof geliefert hatte. Nun war einer der Vorfahren jenes Schlossbesitzers in Niederösterreich ein General, der im Siebenjährigen Krieg eine Schlacht gegen Friedrich II. verloren hatte. Dieser selbst überreichte ihm als ritterlichen Trost besagte Schatulle. „Was waren das wohl für Kriege“, fragt Nikolaus Harnoncourt zum Abschluss dieses Berichts, „in denen feindliche Heerführer einander Flöten als Andenken schenkten!“
Das Buch „Die seltsamsten Wiener der Welt“ ist im Residenz-Verlag erschienen, wo die Musikjournalistin Monika Mertl erst kürzlich eine Biografie Nikolaus Harnoncourts veröffentlicht hatte. Gemeinsam mit Milan Turkovic, einem Mitglied des Concentus Musicus, machte sie sich nun daran, die Geschichte dieses Orchesters aufzuschreiben, das in seiner kompromisslosen Anwendung von Originalinstrumenten heute zu den bedeutendsten seiner Art zählt. Der Titel des Buches geht auf eine Schlagzeile der „Süddeutschen Zeitung“ zurück, in der ein Kritiker 1976 schrieb: „Daß diese Extremisten des Purismus, diese Fanatiker der alten Instrumente und Spielweisen justament aus Wien kommen, der Stadt des ,Laisser faire‘, erstaunt mehr als Bananen vom Nordpol oder Robbenfänger aus Kamerun…“
Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit Nikolaus Harnoncourt mit seiner Programmschrift „Zur Interpretation historischer Musik“ einer Bewegung das Manifest lieferte, die, obwohl zunächst belächelt und später heftig umstritten, in jenen Jahren ihren unaufhaltsamen Siegeszug antrat. Dass sie heutzutage über alle Anfechtungen erhaben ist und, ganz im Gegenteil, hohe Wertschätzung genießt, ist das Ergebnis langer, harter Arbeit und eines unbeirrbaren Optimismus. Über die Schwierigkeiten und Höhepunkte dieses Weges haben sich Monika Mertl und Milan Turkovic mit den Akteuren, dem Concentus Musicus, und ihren Weggefährten unterhalten. Immer, das schildern die Gesprächspartner der beiden Autoren beinahe übereinstimmend, beherrschten Aufbruchstimmung und Entdeckergeist jede Unternehmung. 1960 entstanden zum Beispiel für das Label „Amadeo“ die Aufnahmen der „Phantasien für drei bis sieben Gamben“ von Henry Purcell. Harnoncourt erinnert sich an diese Aufnahmen: „Sicher sind sie inzwischen noch ein paar Mal aufgenommen worden von den inzwischen gegründeten Gambengruppen. Das sind gewissermaßen Standardwerke geworden. Aber wir waren vielleicht die ersten seit Purcell, die das wieder auf Gamben gespielt haben!“
Gerade dem so bedeutenden Komplex der Schallplattenaufnahmen gilt ein ausführlicher Teil der Erinnerungen. Hier leisteten Harnoncourt und sein Concentus Musicus geradezu Bahnbrechendes. Ob Telemanns „Tafelmusiken“, die „Marienvesper“ Claudio Monteverdis oder das Mammutprojekt der kompletten Bachkantaten, das über einen Zeitraum von nahezu 20 Jahren in Zusammenarbeit mit Gustav Leonhardt und dessen Ensemble entstand.
Jene, deren Begeisterung und Interesse für die so genannte Alte Musik über die Jahre gewachsen ist und sich gefestigt hat, werden die Interviews und Berichte von Monika Mertl und Milan Turkovic wie das „Who is who“ der Alten-Musik-Szene lesen. Gleichwohl erfährt man auch: Diese Szene hat es eigentlich nicht gegeben, es sei denn, man fasst die miteinander konkurrierenden Ensembles als solche zusammen. Peter Weiser zum Beispiel, seinerzeit Generalsekretär des Wiener Konzerthauses, schildert die Situation ausführlich: das Ringen um Auftrittsorte und den Streit um die schon damals dürftig ausgestatteten Subventionstöpfe. Die anstrengende und aufregende Suche nach Originalinstrumenten und schließlich der Streit um die Lehre des „Glaubens an den reinen Klang“ taten ein Übriges. All das findet man kurzweilig und anschaulich beschrieben in diesem Buch. Ein Personenregister hilft, auf die Namen der Akteure im Text schnell zugreifen zu können. Der aussagekräftige und zugleich unterhaltende Bildteil reichert das Lesevergnügen an. Harnoncourt selbst steuerte ein handschriftlich gefertigtes Verzeichnis aller Aufnahmen des Concentus Musicus bei. Die Zeittafel sowie eine beigelegte CD mit Musikbeispielen und Gesprächsausschnitten mit Nikolaus Harnoncourt vervollkommnen das ansehnlich ausgestattete Buch. Es ist kein Kompendium für „Fachidioten“, sondern eine ermunternde Einladung für Enthusiasten und Interessierte gleichermaßen, sich auf das Abenteuer „Alte Musik“ einzulassen.