„Geleitwörter“ bergen immer ein gewisses Gefahrenpotential. Diese Art des Vorab-Lobes lullt den Leser entweder von vornherein ein und stimmt ihn milde, oder aber sie bringt ihn in Hab-Acht-Stellung, ob die Vorschusslorbeeren tatsächlich berechtigt sind.
Im vorliegenden Fall hat Ioan Holender, Wiens Noch-Staatsoperndirektor, einige Zeilen verfasst, die die Messlatte extrem hoch legen und Erwartungen schüren. Doch am Ende der knapp 330 Seiten muss man sagen: er hat nicht übertrieben. Christina Drexel, ausgebildete Dirigentin, hat auf der Basis ihrer Dissertation ein Buch über Carlos Kleiber veröffentlicht, das im Grunde genommen da weitermacht, wo Alexander Werners Biographie von 2008 aufhörte. Während Werner sich vor allem auf das Sammeln von biographischen Details konzentriert hat, aber darauf verzichtete, das „Phänomen Kleiber“ ergründen zu wollen, unternimmt Drexel genau diesen Versuch. Sie bewegt sich auf dem noch relativ frischen Terrain der Interpretationsforschung auf eine geradezu virtuose Weise und kommt in ihrer fulminanten Studie zu einer Reihe von stichhaltigen Ergebnissen.
Drexel sucht nach Kriterien, wie sich die Arbeit Carlos Kleibers systematisieren lässt und wählt dafür unterschiedliche methodische Ansätze. In einer Umfrage bei Orchestermusikern aus München und Dresden hat sie versucht, Kleibers Arbeits-, Musizier- und Dirigierweise zu ergründen – dass „Intensität“ wohl das hervorstechendste Merkmal seiner Arbeit war, ist nur eines von vielen Ergebnissen, die im entsprechenden Kapitel sehr differenziert wiedergegeben werden. Anschließend hat die Autorin Kleibers persönliche Eintragungen im Notenmaterial untersucht. Die Tatsache, dass der Dirigent innerhalb einzelner Instrumentengruppen die Stimmen unterschiedlich einrichtete, führte nach Ansicht Drexels zur spezifisch Kleiberschen Transparenz des Orchesterklangs. Am Beispiel des zweitens Akt von Puccinis „Bohème“ werden exemplarisch seine Tempovorstellungen untersucht, mit dem Befund, dass sich Kleibers Tempi über Jahre hinweg nur unwesentlich geändert haben. Stellenweise zügiger als Toscanini bleibt sich Kleiber mit seinem Interpretationskonzept weitgehend treu.
Drexel hat bis in musikalische Details hinein ihre Untersuchung vorangetrieben, sie hat Partituren und Aufnahmen miteinander verglichen, nennt Taktzahlen und wägt Kleibers Tondokumente gegenüber Einspielungen mit anderen Dirigenten ab. Schließlich hat sie Körpersprache, Gestik und Mimik sowie seine Schlagtechnik und seinen Dirigierstil genauestens analysiert. Gerade beim Aspekt der „Dirigiergestik“ kommt die Autorin nicht umhin, die Bewegungsabläufe anderer namhafter Dirigenten zu schildern, um anschließend Kleiber in den Fokus zu rücken. Der Leser schleicht sozusagen ständig in diverse Orchestergräben und darf Mäuschen spielen, wenn der Meister seine Proben leitet. Dass die Studie sich jedoch nie im Voyeuristischen verliert, sondern stets der anfangs formulierten Zielrichtung folgt, wonach die „ästhetische Position“ in Zusammenhang „mit Dirigierstil, Interpretationsauffassung und Klangergebnissen“ dargestellt werden soll, versteht sich von selbst.
Zahlreiche Gespräche hat Drexel mit Zeitgenossen geführt und dazu Material erschlossen, das bislang nicht öffentlich zugänglich war, darunter eine Seite mit Einrichtung der Stimmen zum „Tristan“-Vorspiel oder Notizzettel, die Kleiber den Musikern des Bayerischen Staatsorchesters vor den Proben aufs Pult stellte. In der Paukenstimme zur „Traviata“ findet sich bei Andante sos-tenuto der Hinweis: „Bei Kleiber bitte wie gedruckt + so leise, daß die Stimmung keine so große Rolle spielt!“
Man könnte nun glauben, die Autorin zerpflücke mit ihrer Studie den Mythos Kleiber, indem sie ihn auf den wissenschaftlichen Seziertisch legt und ihn dort in seine Einzelheiten zerlegt. Umso größer ist ihr Verdienst, dass der Zauber erhalten bleibt. Auch nach Lektüre dieses Buches greift man gleichermaßen gern ins CD- und DVD-Regal, um den Meister bei seiner Arbeit zu erleben – nur mit dem Unterschied, dass man ein gutes Stück schlauer ist als beim letzten Mal.