„Oft täuscht die Platte“, mahnte Joachim Kaiser als er 1965 seine „Gro-ßen Pianisten“ schrieb und beschrieb. Zwar sei „ohne Mithilfe der Schallplatte“ ein „Atlas der Klavierwelt“ nicht zu erstellen – ihn zu erstellen setze aber voraus, „den betreffenden Pianisten auch ,in Natur‘ gehört, seinen Anschlag erlebt“ zu haben. Eigentlich eine salomonische Lösung: Das hörende Erleben als Korrektiv für die „Schallplattenübersetzung der künstlerischen Leistung“. Die Konserve „geprüft“, so Kaiser, am „Original des lebendigen Konzerteindrucks“. Dass solcher Common Sense mit dem neuesten Atlas der Klavierwelt, den „PianistenProfilen“ von Ingo Harden und Gregor Willmes, zwei alten Hasen der Schallplattenkritik, außer Kraft gesetzt scheint, gehört zu den nicht geringen Überraschungen, die dieses voluminöse Nachschlagewerk bereithält.
Dabei ist der Anspruch überaus respektabel. Nur allzu gern geht man mit den Autoren, wenn sie meinungseinengenden „Moden, Kunstideologien, Marketing- und Promotion-Aktivitäten“ den Kampf ansagen, wenn sie „ein angemessen differenziertes und sachgerecht breites Panorama pianistischer Interpretationsweisen zu entrollen“ gedenken. Gemessen an den zwei Dutzend Pianisten, mit denen Kaiser noch seine Klavierwelt aufspannen konnte, ist die Harden/Willmes’sche Pianisten-Rolle mit immerhin 600 Interpreten um einiges länger ausgefallen, wenngleich immer noch nicht so lang wie sie sein könnte. Zitiert werden Studien, wonach allein die Teilnehmerzahl von Klavierwettbewerben bis 1990 stattliche 15.000 Namen umfasst. Irgendwie hat man es immer gewusst: Pianisten gibt es wie Sand am Meer. Dass das Problem, daraus eine sinnvolle Auswahl zu treffen, dem Autoren-Duo den Schlaf geraubt hat, wie sie einräumen, ist nachvollziehbar. Denn, wie bitteschön, soll das auch gehen – den Strand sieben? Indes haben Harden/Willmes die Herkules-Aufgabe angenommen und zwei Siebe übereinandergelegt. Neben „Ansehen und Bekanntheait im deutschsprachigen Raum“ definieren sie ein „primäres Auswahlkriterium“: „Unsere Profile stützen sich im Wesentlichen auf die vorhandenen Tonträger in allen ihren Formen.
Konzerteindrücke werden, soweit möglich, zur Absicherung der Bewertungen herangezogen.“ Ob Rolle, Rille, Bits und Bytes – das alte „High Fidelity“-Ideal, der Glaube an die „Wahrheit der Schallplatte“, an die „unverfärbte“, „ungestörte“ Nähe zum „Originalklang“ ist intakt geblieben. Zugleich ist damit insofern eine schatzbildende Wirkung verbunden, als 600 Pianistenprofile eben auch 600 Diskografien bedeuten, ergänzt mit Angaben zu Kompositionen, Editionen, Bildaufzeichnungen, Schriften, Literatur. Gerade angesichts des Versuchs der Kulturindustrie, uns auf eine Handvoll Tastenstars und Tastensternchen zu fokussieren, ist dieses armdicke Kompendium ein Gegengift: blicköffnend, perspektivegebend, kompetenzstärkend.
Andererseits: So beeindruckend es ist, von Harden/Willmes Namen gelistet zu bekommen, die man selten oder noch nie gehört hat – Harald Bauer, Alexander Brailowsky, Ania Dorfmann, Alfred Hoehn, Eileen Joyce, Moritz Rosenthal, Carlo Zecchi –, Lücken und Querstände bleiben. Dass etwa die Schnabel-Schülerin Edith Kraus nicht aufgenommen ist, obwohl sie im deutschsprachigen Raum groß geworden und bis heute insbesondere wegen ihres Ullmann-Spiels glühende Anhänger hat, ist ebenso unverständlich wie der Umstand, dass ein paar verrauschte Takte Brahms’ genügen, um diesen ins Pianisten-Handbuch zu hieven. Ferner fragt man sich, weshalb ein „Hoffnungsträger“ wie Martin Stadtfeld Eingang findet, wenn dessen „Profil“ letztlich in der blumigen Ermahnung mündet, der Künstler möge „über seinen eigenen Schatten springen“.
Überhaupt ist es die Idiomatik der „kleineren“ Pianisten, die zuweilen blass ausfällt, etwa wenn eine nicht-sentimentale Einspielung von Schumanns „Geister-Variationen“ durch Andreas Boyde für dessen Porträt folgenlos bleibt. – Für Harden/Willmes hängt die Interpretation am Klangeindruck, den sie hinterlässt. Fast stereotyp ist es der „Zugriff“, auf den sie lauschen, woran sich ihnen das „Profil“ verrät oder nicht. Wer als Leser die Relativität dieser Sichtweise ebenso einzuordnen weiß wie die problematische Relativierung der Konzerterfahrung – für den könnte dieser Atlas der Klavierwelt dann doch noch werden, was den Autoren die Platte ist: „echter Freund und Helfer“.